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Trafford Publishing
Victoria, B.C. and New Bern, N.C.
©2004
ZWEI MENSCHEN GEWIDMET,
DEREN ARBEIT
FÜR DAS LEBEN SPRICHT:
Pastor
Marsha Acord
UND
Komponist/Dirigent
John Adams
Was, bist du toll? Kann man doch sehn, wie es in der Welt hergeht ohne Augen. Schau mit dem Ohr; sieh, wie jener Richter auf jenen einfältigen Dieb schmält. Horch - unter uns -, den Platz gewechselt und die Hand gedreht: wer ist Richter, wer Dieb?
König Lear (iv:6)
(Wolf Graf Baudissin)
„Was, zum Teufel, hat denn dieses dämliche Grinsen zu bedeuten?“ murmelte Jimmy.
„Also, wenn du’s immer noch nicht begriffen hast,“ gab Arndt zurück, „dann musst du den ganzen letzten Monat verpennt haben.“
Über den fantastisch blauen Himmel jagten blendend weiße Wolken dahin und schimmerten an dem zwischen Felskanten und städtischer Silhouette sichtbaren Stück Firmament. Arndt erinnerte sich an eine Wanderung letzte Woche, die über sonnenfleckige Weiden und bewaldete Nebenwege auf der Hochebene hinter diesem Tal geführt hatte. Mit dem inneren Ohr konnte er selbst jetzt noch die beschwingten Takte von Beethovens Allegro des Quartetts Opus 74 vernehmen – wenn auch gelegentlich vom Treiben auf den Straßen zweihundert Meter unten ihnen übertönt –, die dieser Landschaft inne zu wohnen schienen.
Geschichte, dachte Arndt bei sich, ist wie ein Rorschach-Test auf einem Spiegel.
Die Erinnerungen an Heidelberg waren plötzlich wie weggeblasen: ein giftiges elektronisches Summen, ein lästiges Scheppern drangen an sein ganz und gar äußeren Ohr; vergitterte Fenster zur Linken zeigten verregneten graubedeckten Himmel, nicht Blau hinter zartem Weiß. Die finster gähnende Gang vor ihm legte am ehesten noch Musik wie aus Godunows Sterbeszene nahe, oder die Szene in Rheingold, wo der unsichtbare Alberich die glücklos versklavten, schreienden Zwerge durch Niebelheim treibt, denn just in diesem Moment verklang auch hier, an diesem eisernen Gatter das Echo eines Aufschreis aus der Tiefe des Trakts. Sergeant Arndt Peter Bergson vom U.S. Army Military Police Corps war unterwegs auf den Fluren des Verwaltungstrakts zum Zentralen Kontrollpunkt des Mannheimer U.S.-Militärgefängnisses.
„Mann am Tor,“ rief Arndt, als er an das blau gestrichene Tor kam. Auf der jenseitigen Seite des Tores reckte ein Soldat in olivgrüner Uniform, sicher hinter kugelsicherem Glas untergebracht, den Kopf, um den Gang hinter Arndt einsehen zu können, bevor er eine Taste auf der Seite des Kontrollpults betätigte. Ein Summen, Scheppern und Quietschen vor ihm, als das Tor aufschwang, ein Klicken und Scheppern hinter ihm, als Arndt den Arrestzellenbereich zwischen dem Verwaltungstrakt und dem eigentlichen Gefängnis betrat, und das Tor sich automatisch hinter ihm schloss.
Arndts gerade abgeschlossenes, einmonatiges Training am 130. Station Hospital in Heidelberg qualifizierte ihn (zumindest nach Ansicht der U.S. Army) als Fachkraft für Sozialarbeit/Psychologie im militärischen Justizvollzug. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, stammte aus Iowa, und war vorher stellvertretender Befehlshaber des dritten Wachzugs gewesen, also genau jener Einheit, die an diesem Freitagmorgen im November 1973 hier Wachdienst hatte. Genau aus diesem Grunde war er auch nicht überrascht, dass sein Erscheinen am inneren Tor der Einzäunung keine sofortige Reaktion vom Kontrollraum zeitigte.
Es war Obergefreiter George Morrell, ein blonder Texaner aus Dallas mit hellgrünen Augen und der Nase eines Luchses, der dort drinnen mit einem verschlagenen Grinsen im Gesicht saß und die Hand über dem Steuerpult schweben ließ. Er und Arndt saßen oft bei Schnaps und Bier in der Dorfkneipe am Ort zusammen, aber im Grund hatten sie immer nur so getan, als diskutierten darüber was denn nun besser sei: die Rinderherden in Texas oder die in Iowa, Präriegesträuch oder Mais, das Footballteam der Cowboys oder das der Vikings. „Immer schön ‚Bitte‘ sagen, Sergeant,“ flötete George durch das Fenster.
„Bitte, bitte, böser Wolf-Obergefreiter,“ Arndt tat so, als zittere er vor Angst, „aber friss mich nur nicht auf!“
„Also gut, kleines Geißlein, wie du willst,“ alberte Morrell, kannte sich offensichtlich noch bestens bei den Brüdern Grimm aus, und Arndt erhielt Zutritt zum zentralen Kontrollpunkt. Mit einem letzten flüchtigen Blick zurück durch den hundert Metern langen Gang des Verwaltungstraktes schloss er das Gatter hinter sich. Ein einsamer Wächter lümmelte unbequem auf einem Stuhl auf halber Höhe des Flurs, am geöffneten Tor von Pfosten 13, und ließ sich die Passierscheine der gelegentlich vorbei kommenden Häftlinge zeigen. Irgendwo dahinter, irgendwo in der Nähe des Kommandanturbüros, schubberte unaufhörlich eine Bohnermaschine, zog den Raumpfleger träge an ihren Griffen hinter sich her, prallte mal gegen die eine, mal gegen die andere Wand, und ließ den gebohnerten Linoleumfußboden in fast nicht mehr vorstellbarem Glanz hinter sich.
Auch der Kontrollpunkt träumte in behäbiger Vormittagsruhe vor sich hin, bot keinerlei Zerstreuung, als Arndt die Treppe zur oberen Etage des Gefängnisses nahm. Der mittlere Sicherheitsbereich in Block A zu seiner Linken, also Richtung Westen, lag größtenteils menschenleer da, denn die dort untergebrachten Insassen befanden sich entweder in den Unterrichtsräumen im Obergeschoss, in den Werkstätten über den Hof rüber Richtung Norden, oder waren sonst wo auf dem Gelände mit allgemeinen Wartungsarbeiten beschäftigt. Auch in der Klinik, der Bibliothek und den sportlichen Einrichtungen im Ostflügel rechts schien man eine ruhige Kugel zu schieben. Der Friseursalon, dessen deutscher Pächter einmal die Woche geöffnet hatte, und der anscheinend das Privileg, die Gefangenen mit seinem disharmonischen Gepfeife und seinen unverständlichen Witzen in schlechtem Englisch zu drangsalieren, als eine Art Sonderzulage betrachtete, dämmerte linkerhand mit seinen verrammelten Türen und Fenstern vor sich hin.
Arndt hielt sich rechts, stürmte im Gegenuhrzeigersinn drei Treppen und zwei Absätze hoch, wobei er mit den Fingerspitzen am schweren Maschendraht entlang streifte, der die Insassen von unerlaubten Flugversuchen im Treppenschacht abhielt. Aus zwei Unterrichtsräumen hinter ihm drangen die nahezu gleich klingenden, kontrapunktisch brummenden Stimmen der Ausbilder. Auf dem oberen Treppenansatz wandte er sich scharf nach rechts und schritt in Richtung des Hochsicherheitsblocks C. Ein winziger Abort in der Ostwand kurz vor der Stahltür des Zellenblocks erinnerte ihn an eine kleine wenn auch dringliche Angelegenheit, und er trat kurz ein, wobei er zunächst einen fehlplatzierten Mopp in seinen Eimer stellen und die merkwürdigerweise angelehnte Tür der Besenkammer im Eingangsbereich des Aborts schließen musste.
Sorgfältig achtete Arndt beim Austreten darauf, dass weder die Hose noch die blank geputzten Springerstiefel einen Tropfen abkriegten, und da echte, zerbrechliche Spiegel offensichtlich ein unannehmbares Sicherheitsrisiko in diesem Umfeld darstellten, rückte er die Krawatte der Ausgehuniform vor einem imaginären Spiegel zurecht, bevor er wieder auf den Flur trat. Er nahm seinen Job sehr ernst, und der tadellose Sitz seiner Uniform war ihm wichtig. Der Hauch von Pazifismus, der Norwegen, dem Land seiner Vorfahren, anhaften mochten – sei es aufgrund des Friedensnobelpreises oder wegen bestimmter sozialistischer Tendenzen – änderte nichts an der Tatsache, dass die männlichen Mitglieder seiner Familie seit eh und je in der U.S. Army gedient hatten.
Beispielsweise lag die Einwanderung seines Urgroßvaters Haake gerade mal zwei Jahre zurück, als der Sezessionskrieg ausgebrochen war, noch während er dabei war, sich mühsam eine Existenz in Illinois aufzubauen. Von Haus aus leidenschaftlicher Gegner der Sklaverei, hatte er sich den Truppen General Grants angeschlossen, der die bedingungslose Kapitulation der Südstaaten quasi zu seinem Spitznamen gemacht hatte – Unconditional Surrender nannten seine Männer ihn –, und erlebte den Feldzug durch das Mississippi-Tal, wobei er ein Auge und einen Arm bei Vicksburg verlor. Später dann hatte er ein gut gehendes Fachgeschäft für Pumpen und Gummi in Cedar Rapids im Bundesstaat Iowa eröffnet und war gleich zweimal als Kandidat für das Bürgermeisteramt angetreten, allerdings auch zweimal gescheitert.
Zwei Jahre nach dem Tod des Vaters kam die Reihe an seinen jüngsten Sohn Anders – Arndts Großvater, ein frischgebackener Tierarzt, frischvermählt und mit einem kleinen Sohn, der noch in den Windeln lag –, in den Krieg zu ziehen. Diesmal ging es mit General Pershing, genannt Blackjack, nach Europa, um Frankreich und Belgien von den Boche zu befreien, und Arndts Großvater war nie zurück gekommen. Er wurde Opfer eines direkten Artillerieeinschlags, als er nahe der Marne versuchte, nachts Pferde aus einem in Brand geschossenen Stall zu retten. Der Bergungstrupp war nicht mal ganz sicher, ob es sich bei den Überresten im Sarg wirklich zu hundert Prozent um seinen Leichnam handelte, aber die Familienlegende stellte es immer so dar, als hätte es gar kein besseres Ende für diesen Pferdenarr geben können, als nach einem so radikal abgekürzten Leben zusammen mit seinen Tieren beerdigt zu werden.
Auch Arndts eigener Vater Edmond war gerade mal zwei Jahre aus Uni, als er dem Ruf zur Befreiung Norwegens – und ganz Europas – vom Nationalsozialismus folgte. Allerdings nahm der Feldzug General Pattons – der Spitzname Blood and Guts war Programm – zur Befreiung Oslos merkwürdig verschlungene Umwege über Marokko, Algerien, Tunesien und Sizilien. Letztendlich kam Edmond nie dazu, das Grab seines Vaters aufzusuchen, denn bereits am Gela Brückenkopf an der sizilianischen Küste wurde er von den Trümmern einer durch die eigene Flak abgeschossene U.S.-Transportmaschine getroffen und mit einem Metallstück im Kopf vorzeitig Richtung Heimat verschifft.
Arndt war fest entschlossen, mit der etablierten militärischen Familientradition zu brechen. Er war der einzige Sohn dieses Kriegsversehrten und der Frau, die auf ihn gewartet, ihn dann trotz seiner Kriegsverletzungen heiratete hatte und sogar stolz auf ihn war. Arndt selbst war ein Musterschüler gewesen, stieg außerdem bei den Pfadfindern zum höchsten Rang auf, dem des Oberpatrouillenführers, bevor er ausschied, um sich ganz auf den Leistungssport an der Schule zu konzentrieren. In der letzten Klasse brachte er es in der Football-Abwehr auf ganze vierzehn abgefangene Pässe, zweimal wurden ihm Football-Stipendien an zwei der besten zehn Hochschulen des Landes angeboten. Gleichzeitig war ihm aber auch an alten Büchern gelegen, an den Klängen der Beethoven-Quartette, an Wagner und Bruckner, an Bach. Er sprach sich bei jeder passenden Gelegenheit gegen die verfehlte Politik aus, die Washington in Indochina betrieb, aber anders als seine Vorfahren wartete er nicht erst zwei Jahre seines Lebens ab, um am Ende doch eingezogen zu werden, sondern meldete sich gleich am ersten Tag nach dem Schulabschluss beim Ersatzamt der U.S. Army mit der Frage, wie es denn mit einem Rückflugticket nach Vietnam aussähe.
Ein erklärter Gegner eines hirnrissigen Krieges zu sein war eine Sache, Gefühle wie Pflicht, Ehre und Vaterlandsliebe ernst zu nehmen dagegen eine völlig andere.
Doch die Army machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Zwar wurde er nach Vietnam geschickt, aber man bildete ihn zum Feldjäger aus und schickte ihn an ein Militärgefängnis vor Ort, dessen Kürzel dieselben wie die des Präsidenten waren, LBJ, in diesem Fall aber für „Long Binh Jail“ stand. Dort bewachte er eingesperrte Mitglieder der eigenen Streitkräfte, sodass seine halbautomatische M16 weniger auf die Vietcong draußen als auf die eigenen Kameraden drinnen gerichtet war.
So kam es, dass Arndt als Erster in der Familie völlig unversehrt aus dem Krieg zurückkehrte. Kurz vor Ablauf seiner Dienstzeit bot ihm die Army eine üppige Sonderzulage, eine Beförderung und freie Wahl des nächsten Stationierungsortes an, um ihn zu motivieren, sich erneut zu verpflichten. Er ging auf das Angebot ein und entschied sich für das Militärgefängnis in Mannheim, nicht zuletzt, um sein Schuldeutsch mal vor Ort auf die Probe stellen zu können.
Aber der genervte Ausdruck auf dem milchschokoladefarbenen Gesicht, das sich nun an dem kleinen, quadratischen Fenster in der Tür zum Zellenblock C zeigte, stellte für die nahe Zukunft keine deutsche Konversation in Aussicht. „Spät dran heute, was?“ fragte der Obergefreite Benjamin Jones, als Arndt über die Schwelle in den Vorraum des Zellenblocks eintrat. Jones, ein stämmiger Typ aus Florida, schloss die äußere Tür aus massivem Stahl mit unnötiger Wucht, und lauschte zufrieden, wie das Echo dieses Knalls durch die Zellenblöcke vor ihnen und das angrenzende Treppenhaus zum Zellenblock D im Untergeschoss hallte.
„Ja, gab da ein paar Zugänge in der Nacht, die noch abgearbeitet werden mussten“, sagte Arndt. Er trat zur Seite und überließ Jones geschickt den Vortritt in den Zellenblock. „Gibt’s irgendwelche Probleme hier?“ Die Frage war an den Rücken des Wärters vor ihm gerichtet, während sie in das Büro eintraten. Ein dickes drahtverstärktes Fenster gab den Blick auf einen leeren, gefliesten Raum für Leibesvisitationen und auf ein offenes Tor in einen Flügel des eigentlichen Zellenblocks frei.
„Ach, nur wieder dieser scheiß Leroy“, beschwerte sich Jones, während er sich in seinen Drehstuhl hinter dem Schreibtisch fallen ließ. „Der hat den ganzen verdammten Morgen lang krakelt.“ Die Rede war von einem gewissen Leroy Beems, der mit Mordverdacht in Untersuchungshaft einsaß und dem Ermessen der deutschen Justiz ausgeliefert war. Auf verschiedenen Formularen hatte man mehrfach das Wort Schizophrenie – was immer das heißen mochte – eingetragen, um seinen Zustand annähernd zu beschreiben.
„Na ja, was sonst, dabei kriegt der ja ohnehin schon mehr Thorazin als die empfohlene Höchstdosis verabreicht“, meinte Arndt und nahm auf einem der Stühle beim Schreibtisch Platz, wobei er langsam den Kopf schüttelte und verständnisvoll die Lippen schürzte.
„Also, soweit ich das beurteilen kann, macht es überhaupt keinen Unterschied. Der bringt mir den ganzen Block durcheinander mit seiner scheiß Brüllerei.“
Arndt schüttelte immer noch mit dem Kopf, musste sich allerdings zusammenreißen, um sich die Bemerkung zu verkneifen, dass die Lage zumindest im Augenblick doch ziemlich ruhig zu sein schien.
„Nein, nein, weiß schon, aber Geduld. Sie werden ihn schon noch zu hören bekommen“, schnaubte Jones.
„Tja, mit Sicherheit werde auch ich mein Teil zu hören bekommen, sobald ich da hinten auftauche. Also, ich will gern mit ihm reden, aber man könnte genauso gut mit Nixons Oma reden.“
Jones lachte kurz. „Das kann man wohl sagen.“
„Was ist mit den Andern?“ fragte Arndt und schaute von seinem Klemmbrett auf und zu den handschriftlichen Eintragungen im Zellenplan, der sich üben einen ganzen Meter an der Wand hinter dem Schreibtisch erstreckte. „Sonst noch irgend welche Vorkommnisse in Ihrer Schicht, über die ich Bescheid wissen sollte?“
„Ach was, die Andern geben halt mit gleicher Münze zurück, wenn Beems wieder mit seiner Brüllerei anfängt.“
Arndt warf einen flüchtigen Blick auf den Schreibtisch, erblickte eine halbleere Kaffeetasse, einen riesigen Schlüsselbund für den ganzen Block, und einen randvollen Aschenbecher, der sich gar nicht mehr ohne Malheur leeren lassen würde. Mit ganz offensichtlich gespieltem Optimismus fragte er dann „Tja, und wie ist der Kaffee heute?“ Soweit Arndt wusste, war die uralte Kaffeekanne auf der Ecke des Schreibtischs noch nie gereinigt worden.
„Sehr witzig, Sergeant“, Jones verzog sein Gesicht zu einem Abklatsch galliger Überraschung, der tatsächlich eine gewisse Komik hatte.
„Na ja.“ Arndt erhob sich abrupt mit einem Räuspern. „Dann wollen wir’s mal angehen.“ Jones sagte nichts weiter, sondern stand ebenfalls auf, griff sich den Schlüsselbund und ging voraus, aus dem Büro heraus und zum inneren Tor des Hauptzellenblocks. Er öffnete Arndt das Tor und verschloss es gleich hinter ihm wieder, dann schlurfte er zu Stuhl und Schreibtisch in seinem Büro zurück.
Arndt ging nach rechts, an der leeren Untersuchungszelle vorbei, und machte am offenen Tor zum Ostflügel Halt, wo sich ein Block von achtzehn Einzelzellen befand. Die Außentemperatur konnte nicht über zehn Grad Celsius liegen, aber in der Außenwand des Gangs standen trotzdem mehrere der maschendrahtverstärkten Fenster hinter den gitterbewehrten Rahmen weit offen. Durch das erste warf Arndt einen Blick auf den Nieselregen draußen und horchte auf die in unregelmäßigen Abständen fallenden Hammerschläge im Werkstattbereich, der am anderen Ende des Hofes unter einem Wellblechdach lag.
Manchmal kam es ihm vor, als ob er eigentlich ein behütetes Leben geführt hatte: Er hatte nicht nur den Einsatz in Vietnam überlebt, ohne überhaupt in Kampfhandlungen verwickelt worden zu sein, sondern war auch genau in dem Moment ins Militärgefängnis Long Binh versetzt worden, als der hochmoderne neue Komplex fertig geworden war. In früheren Jahren waren die Gefangenen der niederen Sicherheitsstufen in Zelten entlang des Zauns untergebracht gewesen, wohingegen die Häftlinge des Hochsicherheitsbereiches nie etwas anderes als die Wände von aneinander gereihten stählernen CONEX-Frachtcontainern zu sehen bekamen, aus denen einige Verstrebungen zu Belüftungszwecken entfernt worden waren. Es konnte jederzeit vorkommen, dass bis zu achthundert Mann, darunter eine erschreckend hohe Zahl von Schwarzen, unter solchen Bedingungen dort zusammengepfercht waren, und es hätte im Grunde niemand überraschen dürfen, als es 1968 zu einem heftigen Rassenkrawall kam.
Der Aufstand hatte zur Folge, dass längst überfällige Maßnahmen zum Ausbau der Anlage in Angriff genommen, die Richtlinien für das Wachpersonal verschärft und die Zahl der in Vietnam vor Ort inhaftierten Insassen gesenkt wurden. Arndt hatte zweifellos von all diesen Verbesserungen profitiert, aber trotzdem machte es ihm zu schaffen, dass es sich bei vielen seiner Häftlinge nicht um Mörder oder hartgesottene Kriminelle im eigentlichen Sinn handelte, sondern vielmehr um Soldaten mit Kriegsneurosen, die den Verstand verloren hatten oder persönlich nicht mit ihren Kommandeuren an der Front klar gekommen waren. Oft handelte es sich schlicht und einfach um Drogenabhängige, die ein unglaubliches Pech gehabt hatten. Irgendwie wurmte ihn auch die Art und Weise, wie die Army jahrelang den Bau einer angemessenen Haftanstalt hinausgezögert hatte, nur um sie dann zwei Jahre, nachdem sie endlich fertig gestellt worden war, den Südvietnamesen zu überlassen.
Das Gebäude in Mannheim war mal eben zehn Jahre alt, doch ein baldiges Ende dieses ewigen In-Schach-Haltens der Russen war nicht abzusehen. Arndt war sich ziemlich sicher, dass sich der Bau zumindest dieser Zellenreihe für die Army bezahlt machen würde.
Die erste der neun Einzelzellen zu seiner Linken war leer, die Stahlgittertür war auf ihren Rollen zur Seite geschoben. Arndt trat ans Fenster gegenüber der zweiten Zelle, nahm Formular DD 509 „Inspektionsbericht für Häftlinge in Einzelhaft“ aus der Hülle an der Wand und legte es auf das Klemmbrett. Außer den eingesetzten Kopfdaten waren auf dem Blatt nur die von Arndt selbst geschriebenen Bemerkungen der letzten Tage zu finden, jede mit einem knappen „RLG“ versehen, das Oberstleutnant Grantham jeweils wenige Stunden später eintrug. Der Gefängniskommandant und Arndt waren praktisch die Einzigen, die überhaupt je auf Besuch zu diesen Männern in ihren bescheidenen Behausungen kamen.
„Guten Morgen, Mr. Jackson“, sagte Arndt heiter. „Wie wäre es denn heute mit einem kleinen Gespräch zwischen uns beiden?“ Der junge Schwarze in der Zelle lag auf der linken Seite und mit einem Arm über dem Gesicht auf seiner Pritsche. Er hob den Arm ein paar Zentimeter an und schaute Arndt durch die Gitterstäbe mit trüben Augen an. Er räusperte sich und ließ den Kopf zurück auf das Kissen fallen.
„Nein, nicht wirklich, Sergeant. Ich brauche echt ein bisschen Ruhe. Wir haben die ganze Nacht mit Beems durchgefeiert.“
„Na, okay“, gab Arndt zurück. „Tut mir Leid. Versuchen Sie, etwas Schlaf nachzuholen.“ Er trat an die Außenmauer zurück und schrieb hinter das Datum und die Uhrzeit auf dem 509-Formular: „Übernächtigt von nächtlichen Ruhestörungen im Block, ansonsten aufgeweckt und in guter Stimmung.“ Dann paraphierte er das Blatt und steckte es zurück in seine Hülle an der Wand.
Die anderen Männer in dieser Reihe waren etwas redseliger, obwohl die Reaktionen durchweg die gleichen waren. Kein Mensch konnte bei dem lautstarken Gebrüll dieses Irren einschlafen. Arndt hörte sich alles geduldig an und bat um Entschuldigung für die Vorkommnisse, dabei war jedermann völlig klar, dass sich am Problem selbst nichts ändern lassen würde.
Leroy Beems befand sich mittlerweile schon fast zwei Jahre im Militärgefängnis, das heißt, beinahe so lang wie die Dienstältesten unter den gegenwärtigen Wachtruppen, und mit Sicherheit länger als jeder andere Insasse. In Mannheim wurden Häftlinge nur für die Dauer der Untersuchungshaft oder für kurze Haftstrafen unter sechs Monaten untergebracht. Die zu längeren Haftstrafen Verurteilten wurden in die USA verschickt, um ihre Zeit in Leavenworth abzusitzen.
Aber Leroy Beems war ein Sonderfall. Der Vermieter seiner deutschen Freundin hatte ihn buchstäblich auf frischer Tat ertappt, denn er war gerade dabei, das Mädchen zu zerstückeln, nachdem er sie erstochen hatte. Er war noch keine zwölf Stunden inhaftiert, da hatte er schon dreimal Streit mit Zellenkollegen angefangen und wurde in Einzelhaft gesteckt. Nach sechsunddreißig Stunden im Hochsicherheitsbereich war klar, dass sein Geisteszustand bedenklich war. Die wenigen beweglichen Gegenstände seiner Zelle hatte er zerstört, seine Kleidung hatte er zerrissen und aufzuessen versucht. Er hatte mit Christus um die Wette geschrieen und mit seinen Exkrementen unmissverständliche Mitteilungen an den Allerhöchsten an die Zellenwände geschmiert.
Der oberste Kommandeur für psychiatrische Dienste der Army in ganz Europa, ein Oberst von vollem Rang, kam extra von Heidelberg angereist und erklärte Beems nach kurzer Untersuchung für schizophren. Seine Empfehlung war, ihn sofort in eine geschlossene Anstalt in den Staaten zu überführen. Allerdings oblag die endgültige Entscheidung, was Leroys Schicksal betraf, den deutschen Behörden, denn nach dem Besatzungsstatut waren die Vereinigten Staaten verpflichtet, Angehörige der Streitkräfte, die unter dem Verdacht standen, Vergehen an Deutschen begangen zu haben, bis zur Verhandlung vor einem deutschen Gericht in Gewahrsam zu behalten. Es war auch tatsächlich ein gerichtlich bestellter deutscher Psychiater im Militärgefängnis aufgetaucht, aber seine Untersuchung des Häftlings war noch kürzer als die des Obersts aus Heidelberg ausgefallen, und seine Diagnose lautete, der Gefangene simuliere nur, um der Strafverfolgung zu entgehen.
Zweiundzwanzig Monate lang zog sich nun schon die Charade hin, dass jeden Monat ein Psychiater der U.S. Army Beems für geisteskrank erklärte und seine sofortige Überführung in eine geschlossene Anstalt in den USA empfahl, und dass ebenfalls jeden Monat ein deutscher Psychiater Beems der Schauspielerei bezichtigte und verlangte, ihn so lange vor Ort zu behalten, bis er verhandlungsfähig sei. Währenddessen war mindestens ein Dutzend junger Männer im Block C – von denen die meisten ebenfalls noch nicht verurteilt waren oder wenn, dann allenfalls wegen geringfügiger Verstöße gegen die Haftordnung – der sinnlosen Raserei und Furcht erregenden Brüllerei dieses Menschen ausgesetzt, und das vierundzwanzig Stunden am Tag.
Die Namen und Gesichter mochten sich von Woche zu Woche ändern, aber die Lebensgeschichten und Vergehen der Männer, die Arndt an jedem Werktag in der Früh inspizierte, waren kurioserweise meist die gleichen. Sie waren achtzehn bis einundzwanzig Jahre alt; ihre Haut war weiß, schwarz, braun, gelb oder rot, und sie saßen praktisch ausnahmslos wegen Straftaten in Verbindung mit Drogen oder wegen anderer geringfügiger Vergehen im Zusammenhang mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch ein. Die Army verstand es weitestgehend, ihre Truppen frei von Schwerkriminellen zu halten, vor allem vor Auslandsstationierungen, die nicht in Kriegsgebieten lagen, und so bestanden die schlimmsten Verbrechen der GIs in Deutschland meist aus dem Besitz von etwas Hasch oder ein paar Amphetaminen, die sich irgendwo in einem Spind fanden.
In der letzten Zelle am Ende des Flügels schaute ein zwanzigjähriger Südkalifornier mit braunen Augen, ordentlich rasiertem schwarzen Schnurrbart und kantigem Unterkiefer durch die Stäbe. Steven Lynch hatte angeblich einen Zweieinhalbtonner aus dem Fuhrpark seiner Einheit für einen größeren Drogendeal entwendet. Unter Zivilberuf hatte er „Seemann“ in den Fragebogen zur eigenen Person eingetragen und Arndt mit überflüssigen Schwänken von Einmann-Segeltörns zu den Catalina Islands „in seiner Jugend“ vollgelabert. Arndt stufte ihn als „liebenswürdigen Asozialen“ ein, der vermutlich überhaupt nicht in der Lage war, Verantwortung für irgendwelche Fehltritte zu übernehmen.
Nach einer Prügelei im Esssaal, die wahrscheinlich ein Mithäftling angezettelt hatte, befand er sich nun schon eine ganze Woche in Einzelhaft und sah mutterseelenallein aus. Wie alle Häftlinge des Hochsicherheitsbereichs trug er seine Uniform ohne Gürtel und seine abgewetzten Stiefel ohne Schnürsenkel. Mit ihren weniger als elf Kubikmetern auf anderthalb mal zweieinhalb mal zweieinhalb Metern war die Betonzelle absolut reizlos für jemanden, zu dessen Lieblingserinnerungen die Freiheit der offenen See gehörte.
„Mr. Lynch,“ lächelte Arndt ernst, „einen schönen guten Morgen.“
„Ja, wirklich sehr schöner Morgen, alles bestens hier, sieht man gleich“, reagierte Lynch mit Ironie.
„Würden Sie heute gerne mit mir sprechen?“ erkundigte sich Arndt.
„Na klar doch“, antwortete der Häftling, „aber um ganz ehrlich zu sein, ich bin völlig ausgetrocknet.“ Zu den Annehmlichkeiten der Einzelzellen zählten auch verrostete Waschbecken, deren Wasserhähne die Insassen weder an- noch abstellen konnten, und Toiletten ohne Sitz und Deckel, die sich nicht spülen ließen.
„Dann besorge ich Ihnen erst mal ein Wasser“, sagte Arndt. Er bog um die Ecke in einen Verbindungsgang zwischen den Zellenflügeln und betrat den muffigen Versorgungsgang zwischen den Zellen. An der Steuertafel hinter der Zelle von Lynch drehte er den Hahn für kaltes Wasser auf.
Ein entsetzlicher Schrei, wie in Todesangst ausgestoßen, kam durch die Wand direkt hinter seinem Rücken. Obwohl er ja gewarnt worden war, traf ihn der Schrei völlig unvorbereitet und er stieß sich den Kopf an den Wasserrohren vor ihm, als er vor Schreck zusammenzuckte. Surreale Echos des Angstschreis kamen von beiden Enden des Gangs und vereinten sich zu einem primitiven Missklang.
„Nein, Jesus! Nein, nein, nein“, schrie Leroy Beems.
„Stopf dir ‘ne Socken ins Maul, Beems“, brüllte einer der Leute weiter vorn in der Zellenzeile, mit denen Arndt schon gesprochen hatte.
„Halt bloß dein Maul“, kam eine Stimme von einem anderen Gebäudeflügel, „du blöde Sau.“
„Leroy, Leroy“, jaulte ein Dritter. Arndt gellten die Ohren von den unterschiedlichsten Dissonanzen, die gedämpft zu ihm in den schmalen Gang mit seiner verzerrten Akustik drangen.
„Jesus, hör mich an“, rief Leroy. Dann schrie er erneut so laut er konnte, genau wie vorher.
„Okay, das langt, Sergeant. Vielen Dank!“ rief der fast in Vergessenheit geratene Lynch durch die Mauer. Arndt stellte das Wasser ab und machte sich wieder auf den Weg zur Vorderseite der Zelle.
„Hörst du überhaupt zu, Jesus?“ wollte Beems wissen.
Lynch warf einen schnellen Blick auf die rote Stelle auf Arndts Stirn und musste lachen. „Hab ich mir doch gedacht, dass ich irgendwas hinten an die Rohre knallen gehört habe, als Leroy loslegte.“ Er grinste so breit, dass es schon fast weh tun musste, während ihm das Wasser von Wangen und Schnurrbart tropfte.
„Hör mich an“, flehte Beems.
„Na ja“, gab Arndt zu und rieb sich die Stelle mit der flachen Hand, „der hat mich ganz schön erschreckt.“
„Jesus, jetzt hör mal zu!“ kommandierte Beems.
„Beems, Klappe!“ stimmte eine neue Stimme vom anderen Ende des Flügels mit ein. Aus der selben Ecke hörte man, wie eine Gittertür kurz auf ihren Rollen gerüttelt wurde, dass es nur so krachte.
„Na ja“, meinte Lynch, „wenn Sie mich mal zwei Minuten hier raus lassen könnten, wäre es mir ein Vergnügen, diese kleine Ratte für Sie abzuwürgen.“ Ungeachtet dieser Aussage grinste er immer noch freundlich und die Augen funkelten in zerknirschtem Amüsement über den eigenen Witz.
„Setzen Sie mir bloß keinen Floh ins Ohr“, meinte Arndt mit kurzem Lachen.
„Na, jetzt mal ganz im Ernst“, fuhr Lynch fort, „wieso lassen Sie mich nicht heute mal aus beim Besuch und versuchen stattdessen, diesen Typ irgendwie ruhig zu stellen? Ich wette, das wäre das Beste, was Sie für die Jungs hier tun könnten.“
„Ja, ich verstehe schon“, erwiderte Arndt. „Ich will’s versuchen, aber wissen Sie, ich bin auch nur ein Mensch.“ Auf dem 509-Blatt des Insassen notierte er: „Aufgeweckt, angemessen humorvoll, besorgt über die Auswirkungen der Ruhestörungen auf den Block insgesamt.“ Dann betrat er wieder den Verbindungsgang und wandte sich dem Westflügel des Zellenblocks zu.
Als er sich der Wand am anderen Ende in einer Oase herzerquickender, wenn auch nur vorübergehender Stille näherte, stieg ihm der inzwischen schon fast vertraute Gestank von Leroy in die Nase. Morgen, wie jeden Samstag, würden drei Wärter aufpassen, während der Pfleger von Block C Beems auf einer Plane an den anderen acht Zellen vorbei zum Duschraum zerrte, wo er einmal pro Woche abgebraust wurde. Der Pfleger seifte ihn ein, schrubbte ihn und spritzte ihn ab, dann zerrte er ihn wieder, tropfnass wie er war, zurück in seine Zelle. Solange er in seiner Zelle eingesperrt war, konnte Beems gewalttätig und unberechenbar sein, kratzte und biss jeden, der sich dem Gitter näherte, aber er verfiel in einen teilnahmslosen Zustand, wann immer sich die Zellentür öffnete und es irgendwo anders hin gehen sollte.
Luis Martinez, ein Obergefreiter mexikanisch-amerikanischer Abstammung, dessen Vorfahren bereits lange in Kalifornien gelebt hatten, bevor Fremont überhaupt dort ankam – und als Arndts Urgroßvater noch ein Bauernbursche in Norwegen war –, fläzte lustlos vor Leroys Zelle auf einem Holzstuhl wie aus der Schule, das offene Protokoll auf der Schreibunterlage vor ihm, und rauchte eine Zigarette. Beems wurde als Suizidgefährdeter rund um die Uhr beobachtet, alle Beobachtungen wurden peinlich genau alle Viertelstunde in diesem Protokollheft festgehalten wie schon in vielen anderen Heften zuvor, und das schon seit Beginn von Beems Haftzeit, obwohl er sich eigentlich nie etwas anzutun versucht hatte, mal abgesehen davon, dass er mit dem Kopf gegen die Wand oder die Gitterstäbe schlug. Aber das machten ja die Wärter selbst manchmal, wenn ihnen die Zeit lang wurde.
„Mann-oh-Mann“, murmelte Arndt, „das mieft ja heute echt übel, nicht wahr?“
„Da bleibt einem nur die Zigarette, Sergeant“, gab Martinez schlagfertig zurück. Seine ausdruckslosen braunen Augen und abgesackten Schultern verrieten nur zu gut die gähnende Langeweile, die die Überwachung von Beems mit sich brachte. Er gehörte einer jüngeren Generation von Wärtern an, die im Zuge der Reformen nach dem Vorfall in Long Binh im Military Police Corps eher aufgrund von geistigen Qualifikationen als aufgrund von Körperkraft eingestellt worden waren.
Arndt wandte sich um und warf einen skeptischen Blick in Beems Verhau. Im Augenblick stand Leroy ganz ruhig mit dem Rücken zum Gang und schien in eine Ecke an der Zellendecke zu starren. Mit einem Fuß stand er auf der Army-Matratze, die wie er völlig hüllenlos war und neben ihm am Boden lag. Der Dreck einer ganzen Woche klebte vermischt mit Betonstaub an seinem Rücken, an seinen Gliedern, und erinnerte Arndt an Bildern von wehrhaften Xhosa-Kriegern auf dem Weg in die Schlacht.
Dieser Moment führte Arndt wie kein anderer Aspekt seines Arbeitsalltags vor Augen, dass er völlig unzulänglich ausgebildet war, um mit echtem Wahnsinn umzugehen. Mit welcher Vorgehensweise, welchen Worten konnte man den Zustand dieses Mannes noch positiv beeinflussen? Sein einziger Trost lag in der Annahme, dass die voll ausgebildeten Psychiater vermutlich ebenso hilflos in einer solchen Situation gewesen wären.
„Mr. Beems“, sagte Arndt, vielleicht etwas zu fröhlich. „Schönen guten Morgen. Würden Sie heute vielleicht gerne ein paar Worte mit mir sprechen?“
Keine Antwort.
„Seien Sie besser still, Sergeant“, wies ihn Martinez nach einem gebührenden Intervall mit einem ironischen Leuchten in den Augen an. „Er hört sich gerade an, was Jesus ihm zu sagen hat.“
Arndt warf dem Wärter ein schelmisches Grinsen über die Schulter zu. „Ah, verstehe“, sagte er. „Möchte mich also hiermit bei Beiden entschuldigen. Ich kann ja so lange warten.“ Er kehrte der Zelle den Rücken zu und trat ans gegenüberliegende Fenster.
Er fand es ausgesprochen stimmig, dass das Los für die Suizidüberwachung auf Martinez gefallen war, und zwar ausgerechnet an einem von Beems’ gebetsintensiven Tagen. Luis als überzeugter und militanter Atheist hatte einen Heidenspaß daran, über die Dogmen und Ordnungsstrukturen des Katholizismus zu lästern. In Diskussionen in der Freizeit vertrat Arndt oft dann gerne die andere Seite, machte sich für eine mögliche Existenz Gottes stark, wie auch für den Sinn und Zweck organisierter Religionen.
Dabei war Arndt keineswegs streng gläubig: Die endlose langen Lutheranischen Gottesdienste, die die Sonntagvormittage seiner ganzen Kindheit in Anspruch genommen hatten, konnten eigentlich nur Zweifel in ihm wach werden lassen, doch er hatte sich trotz allem eine gewisse Unvoreingenommenheit für die Betrachtung der heiligen Schriften egal welcher Kultur bewahrt. Die Lehren von Hinduismus, Buddhismus und Taoismus – allesamt einig dahingehend, dass es sich bei der Realität der Alltagserfahrung lediglich um eine Illusion handele, die ein einziges geistliches Nichts verdecke – war ihm seit eh und je wie eine Vorwegnahme der modernen Teilchenphysik vorgekommen. Dagegen hatte er ernüchtert feststellen müssen, dass die Bücher der Christen, Juden und Moslems zu etwa neunzig Prozent eigennützigen Unsinn enthielten und neun Prozent glatte Lügen.
Das verbleibende eine Prozent, dass sich aus ebenso zeitlosen wie notwendigen Wahrheiten zusammensetzte, konnte durchaus als Wertebasis eines Menschenlebens dienen, für die es sich unter Umständen sogar zu sterben lohnte. Warum die organisierten Religionen unweigerlich in dogmatischer Spreu schwelgten, während der wahre geistliche Weizen auf dem Halm verrottete, und zwar nur aufgrund von mutwilliger Unterschlagung, hätte er nicht zu sagen vermocht. „Es gibt soviel Leute, die die ganze Zeit blöken, was Gott vor gut dreieinhalbtausend Jahren gesagt haben soll“, hatte Arndt schon bei der einen oder anderen Gelegenheit gesagt, „und überhaupt nicht mitkriegen, was Gott ihnen jetzt in diesem Moment zu sagen hat. Wenn diese Leute nur einmal die Klappe halten und einfach zuhören könnten.“
Er starrte durch die doppelten Zaunreihen aus Nato-Draht über die zweistöckigen Trakte der mittleren Sicherheitsstufe zur Linken hinaus in den Regen und über die flachen, braunen Felder des Rheintals in der Ferne. „Jesus, du weißt ja gar nicht Bescheid,“ rief Beems gequält, „ich will’s dir ja erklären! Du weißt doch gar nicht Bescheid!“ Dann kam etwas, das wie "Du dor glop friesen" klang und in einem herzzerreißenden, gleichsam schluchzenden und geknurrten Seufzer endete. Arndt trat wieder an den vergitterten Eingang zur Zelle und sprach so ruhig, sachlich, fürsorglich und sanft, wie er nur konnte:
„Leroy. Kommen Sie mal her, Leroy.“
Der Kopf des Gefangenen wandte sich ihm zu, und schließlich folgte auch der Rest seines klobigen, medikamentenverseuchten Körpers der Drehbewegung, bis sie sich am Eingang der Zelle gegenüber standen. Seine Augen sahen gleichzeitig irgendwie leer und verschreckt aus. Seine Atmung bestand nur aus einem flach rasselnden Gehechel.
„Leroy, Jesus hat ganz feine Ohren. Man braucht nicht zu schreien, um mit ihm zu sprechen.“
„Er... hasst... mich,“ erklärte Leroy zögerlich, offenbar mehr zur Wand als zu Arndt.
„Er hasst niemanden, der sich ihm von ganzem Herzen öffnet, Leroy.“
„Er ... hasst ...“, wiederholte der Häftling, dann wandte er sich plötzlich ab, als ob er eine Stimme aus einer anderen Richtung hörte, packte wie unter Zwang mit beiden Händen seinen Kopf und brach mit dem Laut eines Tieres auf der Matratze zusammen. Arndt sah zu, wie sich seine Atmung allmählich normalisierte und in einen ruhigen Rhythmus zurück fand, und schloss irgendwann daraus, dass der Mann eingeschlafen oder in eine Art Trance verfallen war. Er hoffte ernsthaft, dass es sich bei diesem Jesus, mit dem sich Beems im Dauergespräch befand, nicht um einen raffiniert firmierenden Dämon handelte.
„Sie hätten Pfarrer werden sollen, Sergeant,“ kommentierte Martinez trocken.
„Zur Marine hätte ich gehen sollen,“ erwiderte Arndt.
„Es war ja auch nie so gedacht, dass wir nach Israel gehen, Larkin“ sagte Morrell und grinste sich eins. „Die wollten doch nur den Russen ein bisschen Feuer unterm Arsch machen.“ Dessen ungeachtet hatte jedermann im Wachtrupp die ganze letzte Oktoberwoche mit vollem Marschgepäck zum Appell antreten müssen, und zwar alle acht Stunden, so wie Tausende von anderen Truppen überall in Süddeutschland, um der Alarmstufe Defcon 3 zu entsprechen, die für die Dauer des Jom-Kippur-Krieges erklärt worden war. Die Sechste U.S.-Flotte war sogar noch einige Wochen darüber hinaus in erhöhter Alarmbereitschaft gehalten worden. „Außerdem“, Morrells Visage hellte sich auf, „kann ich mir nicht vorstellen, dass die uns alle in die Wüste geschickt hätten und die Häftlinge von irgendwelchen Anfängern bewachen lassen hätten, oder?“
Diesmal wurde die Unterhaltung von einem riesigen Bissen des Rippensteaks beeinträchtigt, aber Larkin konnte einfach mit der Antwort nicht auf sich warten lassen. „He, ich sag dir doch, ich hab’ die Pläne gesehen!“ Obwohl er offiziell nur Sachbearbeiter des Militärpolizeikommandeurs, des stellvertretenden Kommandeurs und des Kommandeurs der Anstalt war, sah er sich selbst immer nur als rechte Hand von Oberst Grantham und verdiente seiner Meinung nach den vollen Respekt, den ihm diese Stellung verlieh. „Die Häftlinge sollten alle in einer einzigen Maschine in die Staaten gebrachte werden, bewacht von einer CONUS-Einheit, und wir sollten in Israel eingesetzt werden.“
„Na, leck mich doch,“ Morrell war beeindruckt. „Ein bisschen Sonne und Sand hätte ich schon brauchen können. Was meinst du den, Sergeant? Glaubst du, wir wären wirklich nach Israel gekommen?“
„Also, Jungs, ich halte mich da raus“, wiegelte Arndt ab. „Wie ihr euch sicher erinnert, habe ich seinerzeit McGovern gewählt.“
„Aha!“ prustete es schon wieder aus Morrell heraus. „Ha, ha, ha! Das kann ich mir lebhaft vorstellen! Ha, ha, ha!“
Die Drei saßen an einem von sechs Vierertischen in der Mannschafts-Messe im Keller. Arndt war gerade erst aus dem Hochsicherheitstrakt herunter gekommen und gönnte sich nach dem Mittagessen noch ein paar Minuten für einen Kaffee. Direkt nebenan konnte man durch die dünnen Wände die Hälfte aller Insassen der mittleren Sicherheitsstufe – also über neunzig Mann vom Block B im Obergeschoss – beim Essenfassen mehr spüren als hören: Ein dumpfes Grollen ließ Boden und Wände erzittern.
Obergefreiter Tim Higgins, ebenfalls Wachmann vom dritten Zug und vormals im Sturm seiner High-School-Footballmannschaft in Colorado, näherte sich mit einem Tablett voll Steak und Beilagen. Seine Blicke zum Tisch verrieten eindeutig, dass er sich überlegte, ob er sich für den Tisch mit Morrell und Arndt entscheiden sollte oder für einen Tisch ohne Larkin. Nachdem er sich dann doch für die erste Variante entschieden und hingesetzt hatte, legte er seine fleischige Pranke auf den Tisch mit den Worten, „He, Morrell, hast du dieses sogenannten Fischchili gesehen, das sie heute den Häftlingen vorsetzen?“
„Nein, das habe ich wohl verpasst“, erwiderte Morrell, der sich gerade einer anderen Aufgabe widmete, nämlich, sich über eine enorme Portion Schokopudding herzumachen. Er interessierte sich immer brennend für den armseligen Fraß der Insassen. „Wie sah denn das aus?“
„Wie die Blutruhr,“ berichtete Higgins, „und die Rede ist hier nicht von einem norddeutschen Fluss.“
Larkin trieb die grobe Mitteilung die Farbe aus den Bäckchen, ohne allerdings seinen Essrhythmus ernsthaft aus dem Tritt zu bringen. Einen Augenblick lang wiesen seine sommersprossigen Wangen einen leichten Kontrast auf, dann fingen seine feuerroten Haare wieder von der Kaubewegung zu vibrieren an. Higgins und Morrel grinsten sich an, als führten sie irgend etwas im Schild.
„Ach“, schwärmte Morrell, „da fällt mir doch eine Wahnsinnsgeschichte ein, die ich euch, glaube ich, noch nie erzählt habe. Ihr könnt euch das gar nicht vorstellen. Also, damals, als ich noch in Fort Gordon in der Ausbildung war, kam mich meine Freundin aus Dallas besuchen, damit wir mal ein ganzes Wochenende für uns hatten, irgendwo in einem Motel in Augusta.“
„Wie süß“, flötete Higgins.
„Das kannst du aber laut sagen“, bestätigte Morrell. „Wir kamen das ganze Wochenende nicht aus den Federn. Ließen uns das Essen aufs Zimmer bringen. Es war eine Pracht. Jedenfalls, Samstagabend fühlte ich mich ein bisschen ausgebrannt von der ganzen Rammelei, also bin ich bisschen weiter runter in Richtung der glitschigen kleinen Spalte gerutscht und habe es mal mit Schlecken und Schlürfen probiert.“
Larkin wurde erst weiß, dann eindeutig rosa, und fing an, auf seinem Stuhl fast unmerklich hin und her zu rutschen. „Also schlag mich tot, wenn das nicht die leckerste Möse war, die ich je gekostet habe“, fuhr Morrell erbarmungslos fort. „Stundenlang habe ich auf der herumgekaut.“
Larkins war die Kinnlade heruntergefallen, und ein halbgekautes Stück Steak zitterte zwischen Zahn und Zunge, ohne so recht zu wissen, wohin. Er hatte sichtlich Mühe, sich zusammenzureißen und weiterzukauen. „Na ja, irgendwann,“ berichtete Morrell weiter, und war jetzt richtig in Fahrt gekommen, „habe ich gemerkt, dass ich mal pinkeln muss, also bin ich aufgestanden und kurz weg.“
„Morrell, bitte,“ regte sich Larkin nun auf. „Ich bin am Essen.“
„Na, war ich doch auch, mein Lieber,“ grinste Morrell ihn breit an, „war ich doch auch. Bin ins Scheißhaus gewankt, habe das Licht angeknipst und sah mich selbst im Spiegel. Ich konnte es kaum glauben, aber von Nase bis zur Latte war alles rot von Blut, sah aus wie eine Erdbeere, und hat auch genauso gut geschmeckt. Da hatte die doch echt ihre Tage bekommen, während ich es ihr mit dem Mund besorgt habe.“
„Herrgott noch mal!“ zischte Larkin erbost. Er war kurz davor, sein Mittagessen auf den Tisch zu spuken, vor allen Andern, aber er riss sich zusammen, wie es sich für einen braven Schreibstubenhengst gehört, stand mit schlecht gespielter Würde auf und stiefelte steif aus dem Raum zur Treppe ins Erdgeschoss.
Higgins und Morrell lachten sich kaputt, wie die Schulbuben, bis sie selbst so rot wie Larkin in seiner Not waren. Higgins hielt sich an den eigenen Schultern fest, kriegte sich gar nicht wieder ein. „Also“, meinte Arndt trocken nach einer Weile, „ich muss schon sagen, wir haben es hier mit einem historischen Moment zu tun.“
„Was meinst du denn damit,“ keuchte Morrell, zwischen seinen Lachsalven, „mein Wochenende in Augusta?“
„Ach Quatsch,“ erwiderte Arndt trocken, „nein, Larkin hat nicht aufgegessen, zum erstenmal nicht.“
Dies löste einen neuen Sturm der Begeisterung aus, und diesmal stimmte Arndt mit ein. Larkin war anscheinend wirklich ein bisschen zu zimperlich für den Dienst im Justizvollzug, das musste man schon sagen. „Aber ohne Quatsch“, nahm Morrell den Faden wieder auf, sobald sich das Gelächter etwas gelegt hatte, „das war echt die leckerste Möse, die ich je im Mund hatte.“
„Na, das glaub ich dir ja“, gab Arndt zurück.
„Ja, aber sag mal, hast du deinen Mund dann gleich wieder rein gesteckt?“ wollte Higgins wissen.
„Also,“ lachte Morrell und schaute kurz an die Decke, während er nach den passenden Worten suchte, „ehrlich gesagt, nein.“ Wieder gab es Grund zu lachen. „Aber ihr könnt euern Arsch verwetten, dass ich beim Vögeln keine Minute Pause eingelegt habe.“ Er warf einen Blick auf die Uhr und rief, „Oh Scheiße, ich muss jemand ablösen, dass der in die Pause kann, sonst hole ich mir da oben gleich wieder eine blutige Fresse!“
„Ja, ich muss auch los,“ sagte Arndt. Sie standen auf und traten vom Tisch weg, während einer der Häftlinge, die Küchendienst machten, die Tabletts abräumte.
Draußen in dem kurzen Flurstück vor der Treppe kamen gerade die Insassen von Block B im Gänseschritt und unter den wachsamen Blicken der ausdruckslosen Wärter aus dem Esssaal für Häftlinge. Morrell stürzte sich ungeduldig ins dickste Gedränge, aber Arndt trat ruhig zur Seite und ließ die Häftlinge vor, die die Treppe hinauf stiegen. Dann merkte er, dass jemand neben ihm stand.
„Sergeant Bergson“, war eine zaghafte kleine Stimme zu hören. „Kann ich Sie kurz sprechen?“
Arndt wandte den Kopf und erblickte Ricky Niemeyer, einen U-Häftling, der auf seine Verhandlung vor dem Militärgericht wegen eines Diebstahls, der natürlich drogenbedingt war, wartete. Er stammte aus Virginia, war neunzehn, aber sah eher wie ein altkluger Vierzehnjähriger aus: Klein, unauffällig, ohne Bart aber dafür mit einer Plastiksonnenbrille, die er nie abnahm und die ihn dort im Keller des fensterlosen Treppenhaus irgendwie zwielichtig aussehen ließ.
„Ah, Mr. Niemeyer“, sagte Arndt, „na sicher, jederzeit. Was haben Sie denn auf dem Herzen?“
„Ich dachte, vielleicht besser woanders“, erklärte Niemeyer. „Könnten wir nicht in Ihrem Büro sprechen?“
„Sicher“, erwiderte Arndt freundlich. „Können wir machen. Was haben Sie denn mit Ihrem Auge angestellt?“ Selbst die riesige Sonnenbrille konnte nicht das offensichtlich frische blaue Auge verdecken, das die linke Gesichtshälfte des jungen Mannes einnahm.
„Genau darüber möchte ich ja mit Ihnen sprechen“, sagte Niemeyer.
„Alles klar“, nickte Arndt. „Na, dann bleiben Sie dicht bei mir, und wir kämpfen uns zum Büro durch.“ Arndt ließ die letzten Häftlinge, die noch aus dem Esssaal strömten, an sich vorbei die Treppe hochziehen, dann folgten sie in angemessenem Abstand. Niemeyer und Arndt zwängten sich ganze sechs Treppen und fünf Absätze hoch, am Kontrollpunkt vorbei, bevor sie endlich am offenen Tor zum Block B im ersten Stock angekommen waren, vor ihnen die Nachhut der vom Essen zurückkehrenden Insassen. Arndt bedeutete Niemeyer mit der Hand, zur Seite zu treten und sich neben das Tor zu stellen, während er selbst das Büro von Block B betrat. Mit den Händen auf die Schreibtischplatte gestützt stand ein einzelner Wachmann, Corporal Eli Morgan, ein Schwarzer aus New Jersey, und musterte konzentriert die auf Station B-1 zurückkehrenden Häftlinge.
„Was braucht es denn, Sergeant?“ fragte Morgan, ohne auch nur für eine Sekunde die Männer, die im guten Dutzend jenseits der Scheibe in ihre Unterkunft zurück strömten, aus den Augen zu lassen.
„Ich habe R. Niemeyer von B-4 bei mir“, meldete Arndt, „und nehme ihn kurz mit nach vorne.“
Morgan nahm Lappen und Wachskreide vom Schreibtisch und begann, die Plastiktafel mit der Namensliste durchzugehen, die an der Wand über dem Fenster hing. „Niemeyer, Niemeyer“, murmelte er geistesabwesend, „okay, da haben wir ihn.“ Er wischte den Eintrag „Schul.“ neben dem Namen weg und trug stattdessen „Soz.Arb 12Uhr10“ ein. „Jetzt gehört er Ihnen. Viel Spaß.“
„Danke“, grinste Arndt, „den werden wir sicher haben.“ Er brachte Niemeyer zurück über den oberen Gang und dann wieder die Treppe runter zum zentralen Kontrollpunkt. Die Häftlinge von Block A waren gerade auf ihrem Weg zur Esssaal und schoben sich in einer Reihe treppab. Arndt durchbrach die Schlange kurz und zog seinen Schützling hinter sich her bis zum Fenster des Kontrollraums.
Morrell war schon wieder auf seinem Posten und wunderte sich, Arndt mit einem Häftling im Schlepptau zu sehen. „Was, schon wieder an der Arbeit, Sergeant?“
„Na du weißt doch, die Heiden kennen keinen Feiertag“, bemerkte Arndt. „Der junge Mann hier muss mit nach vorne zu mir.“
„Kein Problem“, grinste Morrell, „aber treib’s nicht zu toll.“
„Ach, wo denkst du hin“, lachte Arndt. Er und Niemeyer wurden durch den doppelten Torbereich gesummt, und erreichten endlich das Büro für Sozialarbeit. Jeff Ferguson, ein hagerer Stabsfeldwebel aus Illinois, der einen Magister in Soziologie hatte und Arndts unmittelbarer Vorgesetzter war, saß am Schreibtisch hinten am Fenster und ließ die Feder übers Papier kratzen. Angesichts des Mangels an rotationsfähigen Fachkräften für sein Büro hatte Ferguson letzten Sommer Oberstleutnant Grantham davon überzeugt, dass Bergson sich hervorragend als Sozialarbeiter eignen würde, wenn man ihn nur ein bisschen schulte. Er schaute auf, und seine grünen Augen blickten durch die Hornbrille auf die Beiden. Mit einem Seufzer der Erleichterung legte er seinen Kuli hin.
„Ah, da sind Sie ja,“ sagte Ferguson. „Ich hatte schon Sorge, Beems hätte Sie gefressen.“
„Das hatte der auch vor, Jeff, aber ich war wohl einfach einen Tick zu schnell für ihn. Apropos Essen: Ich habe schon Mittag gemacht, falls Sie jetzt gehen wollen.“
„Gut, genau so hatte ich mir das vorgestellt.“ Ferguson sprang auf und zwängte sich in seine Ausgehjacke für den Gang in die Messe. „Was gibt’s denn Neues?“ fragte er fast beiläufig, wobei er mit den Augen auf den Häftling deutete.
„Ach so, ja, Mr. Niemeyer muss etwas unter vier Augen mit mir besprechen“, erklärte Arndt
„Na schön, gut so,“ nickte Ferguson, „dafür sind wir ja da. Dann will ich mal nicht weiter stören.“ Und mit diesen Worten trat er aus der Tür und zog sie hinter sich zu.
Die westlichen Fenster des Verwaltungstrakts gingen alle auf den Sportplatz für die Häftlinge. Auch der erste Wachturm war zu sehen. Eines der Fenster stand offen, sodass Arndt nicht nur sehen sondern auch hören konnte, dass aus dem Nieseln ein feiner Regen geworden war. Der Himmel hatte sich beträchtlich zugezogen, seit er das letzte Mal vom Hochsicherheitstrakt raus geschaut hatte, und die trüben Lichtverhältnisse ließen die Sonnenbrille des Häftlings umso lächerlicher erscheinen, auch wenn Arndt sich ihrer Bedeutung bewusst war. Er wandte sich dem jungen Mann zu und streckte seine Hand aus.
„Tun Sie mir bitte den Gefallen und geben Sie mir mal die Brille, damit ich mir Ihr Auge ansehen kann.“ Niemeyer folgte der Aufforderung und bot Arndt seine Wange zur Ansicht an. Die Prellung sah gar nicht mal so schlimm aus, aber Arndt fielen bei der Gelegenheit mehrere rissige, frisch verschorfte Schnitte am Hals des Jungen auf. Bei jedem Anderen hätte man so was für ein Missgeschick beim Rasieren gehalten, aber in diesem Fall kam das kaum in Frage.
„Na, Sie werden es überleben“, meinte Arndt. „Setzen wir uns doch, und Sie erzählen mir die ganze Geschichte.“ Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und legte die Sonnenbrille gerade so hin, dass Niemeyer sie nicht ohne Weiteres an sich nehmen konnte. Der junge Mann setzte sich auf den für Besucher gedachten zweiten Stuhl vor dem Schreibtisch, die Hände im Schoß.
„Es war gestern Abend, als ich mit Passierschein von der Bibliothek zurück auf Station kam.“
„Wann genau war denn das?“
„Etwas nach zwanzig Uhr, da bin ich sicher. Ich würde sagen, vielleicht zehn nach.“
„Okay.“
„Dieser schmuddelige spanische Typ, Cortez, kam hinter mir die Treppe hoch und packte mich am Arm.“ Niemeyer legte zur Veranschaulichung die eigene Hand um seinen linken Trizeps. „Dann hat er mich gezwungen, oben in den Abort vor Block C mit ihm zu kommen.“
„Als er gerade vom Küchendienst kam“, ergänzte Arndt, mehr zu sich selbst als zu Niemeyer.
„Ja, nehme ich an“, sagte der junge Mann. „Fettig und miefig genug war er auf alle Fälle.“
„Nein“, murmelte Arndt, „ich wollte nicht unterbrechen. Tut mir Leid. Und was ist dann passiert?“
„Dann hat er mir ins Gesicht geschlagen und meine Brille dabei runtergeworfen und mich in die Knie gezwungen, da in der Kammer. Er hatte eine Klinge dabei, mit der hat er mir gedroht und gesagt, er würde mich ohne zu zögern umbringen.“ Eine dicke Träne rollte dem jungen Mann über die Wange, quer über die Schwellung, tropfte herunter und zerstob an der Hand im Schoß.
„Lassen Sie’s raus, Ricky, das ist völlig in Ordnung“, ermutigte ihn Arndt. Er hatte das Gefühl, als hätte er selbst einen Kloß im Hals, aber er riss sich zusammen. „Kommen Sie, lassen Sie alles raus.“
Niemeyer richtete sich mit einem plötzlichen Ruck kerzengerade im Stuhl auf, und zog kräftig in der Nase hoch. „Nein, ist schon okay“, wobei er Arndt einen feucht umrandeten Blick voller Trotz und Zorn zuwarf. „Er hat mich gezwungen, ihm einen zu blasen, und dann gesagt, er würde mich noch mal davonkommen lassen, aber nur, wenn ich den Mund halte.“
„Okay“, nickte Arndt. „Ich will Ihnen was sagen: Sie haben genau das Richtige gemacht, und Sie wissen wahrscheinlich selbst, dass Sie sich nichts vorzuwerfen hast wegen gestern, nicht wahr?“
„Ja.“
„Wir klären die ganze Angelegenheit jetzt gleich, und ich sorge dafür, dass er Sie nicht mal mehr zu Gesicht bekommt, solange Sie noch hier drin sind, in Ordnung?“
„Das wäre echt gut.“
„Bitte geben Sie mir jetzt noch ein paar Auskünfte, die wichtig sind, damit ich die Sache mit dem Wachpersonal klären kann.“
„Was denn?“
„Hatten Sie vor dem gestrigen Abend schon mal Kontakt mit Cortez?“ Arndt hatte nicht gefragt, ob er Kontakt mit irgend jemand sonst gehabt hatte, denn die Sonnenbrille, in Kombination mit dem zierlichen Körperbau des Jungen und seinem knabenhaften Auftreten, verrieten mehr als genug. Die ganze Haftanstalt wusste mit Sicherheit, dass Niemeyer ein Stricher war, allerdings hatte auch ein Stricher Anspruch darauf, vor Missbrauch und Körperverletzung beschützt zu werden.
„Der gehört ja nicht mal zu meinem Block, Sergeant. Wir haben im ganzen Leben kein Wort miteinander gewechselt.“
„Soweit Sie das beurteilen können: Hat irgendjemand diesen Vorfall beobachtet?“
„Ich habe niemanden gesehen. Ich war viel zu erschrocken, um auch nur einen Mucks zu machen.“
Arndt fragte gar nicht erst, warum er den Übergriff nicht gleich nach dem Vorfall den Wärtern auf seinem Block gemeldet hatte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die ihm ins Gesicht gelacht und ihm irgendwelche ausfälligen Bemerkungen an den Kopf geworfen hätten. „Noch mal zu dieser Klinge zurück: Haben Sie sehen können, wo er die aufbewahrt?“
„In seinem Stiefel, dem rechten. Er hat sie an einem alten Zahnbürstenstiel befestigt.“
Arndt bat Niemeyer, den Arm frei zu machen und ihm die Prellungen am Oberarm zu zeigen. Dann knöpfte der junge Mann sein Hemd wieder zu, und sie traten zusammen auf den Gang raus, wandten sich nach rechts, wo es zu den höheren Kommandanturbüros ging und zum Haupteingang der Anstalt. Am Posten 13 fragte Arndt den Wachhabenden, ob er ihm sagen könne, wo Oberfeldwebel Morgan zu finden sei, der Kommandeur des dritten Zuges. Als er erfuhr, dass Morgan oben im Kontrollraum für den Haupteingang war, befahl er Niemeyer, dort an der Wand auf ihn zu warten, und erklärte dem Wachhabenden, dass er den Gefangenen in wenigen Minuten wieder abholen würde.
Arndt schritt den Flur entlang, am Büro für die Buchhaltung und Effekten, drei Verhörräumen, dem Büro für Aufnahme und Entlassung, dem Besuchszimmer, dem Anstaltsbüro und der Kommandantur, am großen letzten Tor des Innenhofs vorbei, das zur Sicherheitsschleuse und in die Welt hinaus führte. Auf dem Weg ging ihm Herman Cortez durch den Kopf, ein ehemaliger Stabsfeldwebel beim Nachschub, ebenfalls Kalifornier mexikanisch-amerikanischer Abstammung, achtundzwanzig Jahre alt und unter Verdacht, hinter der Planung eines größeren Syndikats für Diebstahl, Erpressung und Drogenschmuggel an der Air Base in Frankfurt zu stehen. Ihm wurde außerdem Beteiligung an zwei Morden im gleichen Zusammenhang vorgeworfen, doch bisher hatten die Fahnder keinerlei Beweise vorlegen können.
Und noch etwas ging Arndt plötzlich durch den Kopf: Niemeyer, allseits bekannt als Zellenblockschwuchtel, hatte sich bereits nach der ersten Träne das Heulen verkniffen. Soviel zu Vorurteilen. In über drei Jahren Dienst am Militärgefängnis hatte Arndt nur ein einziges Mal erlebt, dass ein Häftling tatsächlich zusammengebrochen und zu flennen begonnen hatte, und dabei hatte es sich ironischerweise um den einzigen Offizier gehandelt, den er je in Mannheim zu bewachen gehabt hatte. Es war ein Vietnam-Veteran gewesen, Hauptmann bei den Fallschirmjägern, der sich mit zwei schmierigen Deutschen eingelassen, einige M16s entwendet und am helllichten Tage deutsche Banken überfallen hatte, ohne allerdings jemals irgendjemand anzuschießen. Die Geschosse der M16s hatten der Polizei trotzdem den entscheidenden Hinweis gegeben, um die Bande hochgehen zu lassen, und der Amerikaner hatte zwei Tage in Mannheim verbracht, bevor man ihn in die Staaten abschob. In diesem Fall hatten die Deutschen aus irgendeinem Grund erleichert und bereitwillig auf ihre Rechte nach dem Besatzungsstatut verzichtet.
Natürlich hatten die Wärter der Anstalt alle angefangen, herumzumarschieren und jenes alte Lied aus der Grundausbildung zu singen: „Ein Fallschirmjäger wäre ich gern, nichts hält mich von Gefahren fern“, sodass der eingesperrte Hauptmann während seines kurzen Aufenthalts in einer Art extraisolierter Einzelhaft geblieben war. Als stellvertretender Zugführer gehörte Arndt damals zu den ganz wenigen, denen Kontakt mit dem Gefangenen gestattet war; er brachte dem Mann sein Tablett und holte es wieder ab, weil er an den beiden Tagen Frühschicht hatte. Am zweiten Tag hatte der Häftling sich bei ihm nach einem Anwalt erkundigt, und Arndt hatte gemeint, es solle besser nicht zuviel erwarten, bevor man ihn zurück in die Staaten transportiert hätte. Es hatte sich lediglich um einen vernünftigen Ratschlag gehalten, wie er fand, aber der Mann hatte plötzlich ausgestoßen: „Oh Gott, was soll denn mein Vater nur von mir denken.“ Und mit diesen Worten hatte er sich mit den Händen vor dem Gesicht auf seine Pritsche fallen lassen und wie ein enttäuschter kleiner Bub geflennt.
Arndt pochte an das Fenster der Tür zum Kontrollraum, und ein Angestellter ließ ihn ein. Stabsfeldwebel Eric Morgan, eine Hüne aus Akron, der schon zweiundzwanzig Jahre bei der Army war, in Korea gekämpft hatte, lange vor seiner Zeit in Long Binh gewesen war und in Okinawa, Leavenworth und sonst wo gedient hatte, hob den Blick von den Akten vor ihm und schaute Arndt fragend an. Sein sich lichtendes sandfarbenes Haar – das sich anscheinend über alle Vorschriften bezüglich der Länge des Kopfhaars, vor allem oben, hinwegsetzen konnte – wurde durch Pomade im Stil der Fünfziger an Ort und Stelle gehalten. „Sergeant Bergson“, rief er und schnitt eine erwartungsvolle Grimasse, „was gibt’s Neues?“
„Mir ist gerade eine glaubwürdige Beschwerde zu Ohren gekommen“, setzte Arndt schnell zu seiner Meldung an, „und zwar hat Ricky Niemeyer gemeldet, dass er letzten Abend Opfer eines sexuellen Übergriffs durch Herman Cortez im öffentlichen Abort im Obergeschoss wurde. Er weist mehrere übereinstimmende Prellungen und Wunden auf, und mir fiel zufällig heute Vormittag selbst die Unordnung in der betreffenden Kammer auf, was seinen Bericht so gesehen stützt.“
„Na, Gott sei’s gedankt, Arndt“, grinste Morgan, „seit fünf Wochen will ich den Dreckskerl jetzt schon vom mittleren Block weg haben, aber er ist bislang zu verdammt schlau gewesen. Sie werden doch sicher einen Disziplinarbericht in der Angelegenheit aufsetzen, oder?“
„Na sicher doch, gleich heute Abend vor Dienstschluss.“
„Hervorragend“, sagte Morgan. Er klappte die Akte, über der er gesessen hatte zu, schob den ganzen Stapel beiseite, rückte seinen Stuhl ab und stand auf, wobei er seine Hosen mit beiden Händen hochzog. „Cortez können wir uns gleich jetzt im Esssaal schnappen und bei der Gelegenheit gleich mal den ganzen Block in die Mangel nehmen.“
„Hm, also Niemeyer“, warf Arndt ein, „der sollte am besten sofort in Schutzhaft, nicht wahr?“
„Aber ja doch, zum Teufel“, entfuhr es Morgan. „Wo steckt er denn?“
„Er wartet am Posten 13.“
„Na ja, wissen Sie was, lassen Sie ihn seine Sachen holen und bringen Sie ihn gleich auf Block C. Nein, Halt, warten Sie: Wir packen Cortez auf Block C. Die Zelle neben Beems ist doch frei, stimmt’s?“
Im ersten Augenblick von diesem Vorschlag überrascht vernahm Arndt ein eindeutig schadenfrohes Lachen, das offenbar aus seiner eigenen Kehle stammte. „Stimmt, Sergeant“, er nickte. „Eine ausgezeichnete Idee, wenn ich mal so sagen darf.“
„Dürfen Sie“, räumte Morgan ihm großzügig ein. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und schritt zielstrebig zu einer Konsole bei den Fenstern, die auf die Haupteingangshalle gingen. „Block D“, bellte er, nachdem er einen Schalter betätigt hatte.
Einen Moment später knisterte es im Lautsprecher der Konsole, und eine Stimme meldete sich als „Block D, Corporal Lindale.“
„Lindale, hier spricht Sergeant Morgan. Haben Sie noch ein Bett frei für die Aufnahme eines Schutzhäftlings?“
„Jawohl, Sergeant.“
„Gut. Sergeant Bergson wird Ihnen in einigen Minuten jemand vorbeibringen.“
„Es wird alles bereit sein, Sergeant.“
Morgan drehte sich zu Arndt und sagte: „Okay, Sie haben’s ja gehört. Ich schnappe mir jetzt Nash von Block B und, hm, Higgins von Block A, und wir werden Cortez mal einen kleinen Besuch in der Messe abstatten. Gott, am liebsten wäre mir, er ginge mit einem Messer auf uns los.“
„Ah ja“, erinnerte sich Arndt plötzlich, „achten Sie auf eine Klinge in seinem rechten Stiefel. Wir werden die noch als Beweisstück für das Vergewaltigungsverfahren brauchen.“
„Gut, ich hoffe, die holt er auch raus, wenn er uns sieht. Dem werden wir eins überziehen, dass er nur noch wie ein Säugling brabbelt und seinen Pimmel eine Weile in der Hose lässt, wo er hingehört.“
„Na, dann viel Glück“, meinte Arndt noch.
„Hat mit Glück nichts zu tun“, erklärte Morgan. Nachdem er einen anderen Schalter betätigt hatte, bellte er: „Block C.“
Arndt machte kehrt und ging zur Tür, die zurück zum Verwaltungskorridor führte.
„Block C. Gefreiter Jones.“
„Jones, hier spricht Sergeant Morgan. Sie haben doch eine freie Zelle neben Beems, stimmt’s?“
Die Tür schloss hinter ihm mit einem Klick. Arndt schlenderte mit einem unverblümten Grinsen den Gang entlang. Als er an der Kommandantur vorbei kam, sah er durch die offene Tür Oberstleutnant Grantham am Schreibtisch sitzen und telefonieren, während im Stuhl vor dem Schreibtisch eine Person in Uniform saß. Ohne dass er es mit Bestimmtheit hätte sagen können – denn Wärter und Insassen trugen gleichermaßen Uniform –, hatte er das Gefühl, es handele sich um einen Häftling.
„Sergeant Bergson!“ dröhnte eine markige Stimme zwei Sekunden später durch den Korridor, so als käme sie direkt aus den Lautsprechern in der Decke. Oberst Grantham hatte keineswegs gebrüllt; es handelte sich um seinen ganz normalen Befehlston. Arndt kehrte auf dem Absatz um und betrat das Anstaltsbüro, blieb in der nächsten Tür zum Kommandeursbüro stehen und blickte hinein.
„Jawohl, Herr Oberst?“
Grantham hielt den Telefonhörer neben dem Gesicht, wobei er mit seiner riesigen Pranke das Mundstück zuhielt, und warf Arndt einen fragenden Blick zu. „Können Sie eine Minute warten, und mir dann ein paar Sekunden zur Verfügung stellen?“ fragte der Oberst. Bei der Person auf dem Stuhl handelte es sich tatsächlich um einen Häftling. Arndt nahm an, das Grantham mit jemand telefonierte, der irgendwo in der Befehlskette für diesen Mann zuständig war, um Verfahrensdetails in Bezug auf seinen Haftstatus zu klären.
„Jawohl, Herr Oberst“, antwortete Arndt, indem er zackig mit dem Kopf nickte. Er wandte sich von der Tür des Obersts ab und ließ seinen Blick durch das Anstaltsbüro schweifen. Der Schreibtisch von Major Legrand, der in der flurseitigen Ecke in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zum Raum stand, war wie selten sonst von Papierkram frei, da der stellvertretende Kommandeur wegen einer dienstlichen Angelegenheit der Brigade in Kaiserslautern weilte. Sergeant Major Ocasio, der polizeiliche Leiter des Militärgefängnisses – ein schlanker, drahtiger Puertoricaner, der schon die Monate bis zu seiner Pensionierung nach dreißig Jahren Dienst zählte – saß über einen Stapel Akten auf seinem Schreibtisch gebeugt, den Rücken den Fenstern zugewandt, die auf den Sportplatz gingen. Die geöffnete oberste Schublade eines Aktenschrankes an der Wand befand sich in bedrohlicher Nähe des Kopfes.
Ein Hubschrauber der Marke Huey flatterte nervös mit in Nord-Süd-Richtung hin und her wedelndem Heckrotor dicht über einem anderen Abschnitt des Stützpunktes, etwa drei Kilometer weiter.
In der anderen Ecke, nahe den Fenstern, befand sich parallel zum Schreibtisch des Sergeant Major der Platz von Corporal Larkin. Sein Stuhl war auf ein Schreibmaschinenpult an der Wand ausgerichtet, doch im Augenblick reckte sich der Torso des Corporals über den Schreibtisch, auf einen Ellbogen gelehnt, während er dem rechten Zeigefinger von Leutnant Pogue über ein Schriftstück folgte. Artemus Pogue, der aus Rhode Island stammte, eine Stahlbrille trug, ein Babygesicht hatte und permanent verblüfft wirkte, leitete eigentlich das Archiv des Militärgefängnisses, doch es war allgemein bekannt, dass die Einheit eigentlich von einem fünfzehn Jahre älteren schwarzen Feldwebel geführt wurde, der alle wichtigen Entscheidungen traf.
Pogue hatte eine zentrale Rolle in einem der bescheuertsten Vorfälle der letzten Zeit im Militärgefängnis gespielt. Nach Erledigung irgendeiner finanziellen Angelegenheit außerhalb des Stützpunktes, für die er zum Schutz der mitgeführten Unterlagen und Wertgegenstände eine Handfeuerwaffe getragen hatte, wurden bei seiner Rückkehr wie vorgeschrieben sein Aktenkoffer und seine Waffe vom Wachmann in der Sicherheitsschleuse geprüft, bevor er das Gelände des Militärgefängnisses betreten durfte. Nachdem er ins Foyer am Empfang eingelassen worden war, gab Pogue – wie vorgeschrieben – seine Waffe beim diensthabenden Angestellten im Hauptkontrollraum ab, bevor er sich eintrug. Der Angestellte hatte die Führung der Pistole vom Kaliber 45 zurückgezogen, geprüft, ob die Zündkammer leer war, hatte die Führung wieder einrasten lassen und dann seelenruhig – angeblich nach Vorschrift – einen Schuss in den Abfalleimer und Boden zu seinen Füßen abgefeuert.
Natürlich hatte sich keiner der drei Beteiligten davon überzeugt, dass auch die Kammer des Magazins der Pistole leer war, was eigentlich der erste Schritt der Inspektion hätte sein müssen. Indem er die Führung freigab, hatte der Kontrollraumangestellte eine Patrone aus dem vollen Magazin nachgeladen und so seine Sichtprüfung der Zündkammer ad absurdum geführt. Es war nicht gerade ein Ruhmesblatt in der Geschichte der U.S. Military Police.
Aber das war nicht mal das Ärgste: Die über die fahrlässigen Beteiligten verhängten Verwaltungsstrafen, die von der Wacheinheit kamen, nicht vom Kommandeur des Militärgefängnisses, taten ein Übriges, das Ansehen des Military Police Corps in Zweifel zu ziehen. Der verschüchterte Wachhabende an der Sicherheitsschleuse verlor einen Dienstgrad und zahlte drei Monate lang eine heftige Geldstrafe aus seinem Sold; der säumige Kontrollraumangestellte wurde ebenfalls um einen Dienstgrad degradiert und zahlte ganze sechs Monate lang ein noch höheres Bußgeld. Leutnant Pogue dagegen, der ja eigentlich für die Waffe verantwortlich gewesen war und vom Rang her weit über den unscheinbaren Obergefreiten an den Kontrollpunkten stand, erhielt lediglich eine strenge schriftliche Abmahnung in seiner Personalakte, die nach sechs Monaten auf Nimmerwiedersehen entfernt wurde.
Nachdem der Leutnant seine Ausführungen für Corporal Larkin beendet hatte, schlich er sich aus dem Anstaltsbüro in den Flur des Hauptverwaltungstrakts hinaus und hielt dabei seine Augen fest auf den Fußboden gerichtet, als sei dort besonders trügerischer Untergrund zu erwarten. Fast zeitgleich erschien auch der Häftling aus dem Büro des Kommandeurs und kam auf seinem Weg zurück an seinen Arbeitsplatz an Arndt vorbei. Direkt hinter ihm trat Oberstleutnant Grantham in die Tür, wobei er den Kopf leicht neigte, um sich nicht am Türsturz zu stoßen. Er war eben in so gut wie jeder Hinsicht ein großer Mann.
Robert Grantham trug entscheidend zu Arndts Eindruck bei, ein behütetes Leben zu führen. Wie er war auch Grantham aus Iowa, kam aus einem kleinen ländlichen Ort nahe der Grenze zu Minnesota, hatte die Universität dieses Bundesstaats durchlaufen, bevor er Mitte der Fünfziger zum Militär gegangen war. Nach einigen Jahren bei der Infanterie war er zum Military Police Corps versetzt worden, hatte seinen Magister in Kriminologie gemacht, und hatte einen Erfolg nach dem anderen in der polizeilichen Verwaltung vorzuweisen.
Als Arndt seinerzeit als frischgebackener Rekrut an das Militärgefängnis in Long Binh kam, war der Bau der neuen Anlage so gut wie abgeschlossen gewesen, doch Vorfälle und Rassenkrawalle unter den Insassen waren zwischen den CONEX-Containern immer noch vorgekommen. Übergriffe, unerklärliche Brände, zahlreiche Kleinstaufstände und Demonstrationen hatten das Lager gebeutelt, und über Monate hin hatte es kaum eine Woche gegeben, in der die anwesenden Wärter nicht in voller Schutzausrüstung hatten antreten und in dem einen oder anderen Abschnitt des Lagers mit Gewalt für Ordnung sorgen müssen.
Durch die endlose Abfolge von Zwölf-Stunden-Schichten, nicht enden wollenden Feindseligkeiten, Rassenspannungen und die ständig notwendige Anwendung von Gewalt hatten Arndt soweit zermürbt, dass er auf dem besten Weg war, sich in einen von vielen kaltherzigen und zynischen Schließern zu verwandeln. Es war in diesem Moment gewesen, dass Bob Grantham eingetroffen und das Kommando übernommen hatte. Fast vom ersten Tag an beeindruckte er die Gefangenen und schockierte die Wärter, indem er unbewaffnet und im Grunde ganz allein – nur mit dem verschreckten Militärpfarrer an seiner Seite – in das dichteste Gedränge des aufgebrachten Käfigs marschiert war und allein durch seine Überzeugungskraft die Ordnung wiederhergestellt hatte. Danach hatte sich die Lage im Militärgefängnis Long Binh entspannt. Mit jedem Monat, jeder Woche war die Zahl der Vorfälle von Gewalt und Revolten allmählich zurückgegangen und irgendwann völlig belanglos geworden.
Granthams Erfolg lag darin begründet, dass er seine Stärken auf eine fast widersinnige Art einsetzte, ja beinahe so, wie man sie vom Zen-Buddhismus her kannte. Seine eindrucksvolle Statur von fast zwei Metern, seine fast hypnotische Befehlsstimme, seine stechend blauen Augen und seine aristokratischen Züge traten nie in den Vordergrund. Nie kam es vor, dass er sich aufregte oder Gehorsam oder Respekt einfordern musste, wie es bei so vielen Offizieren der Fall war. Er stellte sich als eine lebende Präsenz mitten unter den Häftlingen und den Wärtern dar, war immer bereit, sich die Beschwerden oder Meinungen von jedermann anzuhören – wirklich zuzuhören –, und wenn letztendlich Befehlsentscheidungen getroffen wurden, konnte man davon ausgehen, dass der brauchbarste Kompromiss, die fairste Lösung, der menschlichste und vernünftigste Kurs gefunden worden war.
Es war dabei keineswegs so, dass er die Häftlinge verwöhnte oder sich ihnen anzudienen versuchte. Vielmehr verstand er es, die oft lange verschüttete Selbstachtung und Würde der Leute zu wecken, wie auch ihren Ehrgeiz, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ähnlich war seine Wirkung auf die Wachtruppen. Als Arndt hörte (nachdem er von Asien zurückverlegt worden war, sich erneut verpflichtet hatte und stellvertretender Zugführer geworden war), dass auch Bob Grantham versetzt wurde, und zwar als Kommandeur nach Mannheim, wusste er, dass er wirklich Glück im Leben hatte.
Nachdem er den Türsturz problemlos hinter sich gebracht hatte, lehnte Grantham sich leger an den Pfosten, wie eine Großkatze, die sich an den Wänden ihres Baus rieb. Obwohl er selbst fast ein Meter neunzig groß war und vierundachtzig Kilo auf die Waage brachte, kam sich Arndt bisweilen wie ein Zwerg in seiner Gegenwart vor. „Sagen Sie, wie schätzen Sie Steve Lynch in Block C ein?“ wollte der Oberst wissen.
„Der ist durchaus in der Lage, sich in Reih und Glied einzuordnen“, erwiderte Arndt, „und ich glaube, dass er sich bei dieser Schlägerei in der Messe im Grunde nur gegen Murcheson verteidigt hat.“ Ehrlich gesagt, war Arndt davon überzeugt, dass Murcheson skrupellos genug gewesen wäre, die eigene Großmutter wegen des letzten Stück Kuchens abzustechen, aber das sprach er natürlich nicht aus.
„Ich denke gerade drüber nach, ihn nach dem Wochenende zurück nach Block A zu schicken.“
„Das halte ich für eine gute Idee“, nickte Arndt. „Ich habe den Eindruck, er hat sich seine Gedanken dort im Käfig gemacht.“
Stabsfeldwebel Mason tauchte plötzlich hinter Arndt auf, und beide Sprecher wandten ihm erwartungsvoll den Kopf zu. Der Kommandeur der Wachtruppen blickte ebenso erwartungsvoll zurück, dann richtete er sich an den Oberst: „Hat Ihnen Sergeant Bergson von den Vorfällen berichtet, Herr Oberst?“
„Ich glaube nicht, nein“, erwiderte Oberst Grantham, und wandte sich mit erhobenen Augenbrauen wieder Arndt zu.
„Wir besprachen gerade eine andere Angelegenheit“, erklärte Arndt in Masons Richtung. „Ich habe Niemeyer oder Cortez noch nicht zur Sprache gebracht.“
„Was ist mit Cortez?“ warf Grantham ein, denn vermutlich hatte er ebenfalls schon ein Auge auf den Burschen geworfen.
„Wie es scheint, hat er Niemeyer im oberen Korridor auf dem Weg zu seinem Block im Anschluss an den Küchendienst angegriffen und sich an ihm vergangen“, erklärte Mason.
„Niemeyer hat mir den Vorfall vor kurzem gemeldet“, fügte Arndt hinzu. „Die Prellungen, die er mir zeigte, deckten sich mit seiner Aussage, und es gab auch einige Indizien am Tatort, die mir heute früh aufgefallen sind, noch vor der Meldung des Häftlings.“
„Indizien?“ hakte Oberst Grantham mit sarkastischen Gesichtsausdruck. „Ich trau mich ja kaum nachzufragen.“
Mason und Arndt lachten wie auf Kommando kurz auf. „Ein Putzeimer stand nicht mehr dort, wo er eigentlich hingehört, und zwar genau in der Kammer, wo sich nach Niemeyers Aussage der Vorfall ereignet haben soll,“ sagte Arndt mit einem leichten Grinsen. „Das ist alles, was mir heute Morgen auffiel. Im Übrigen kam es mir zu dem Zeitpunkt nicht in den Sinne, dass es sich lohnen könnte, der Sache nachzugehen.“
Mason und Grantham wiegten beide langsam die Köpfe nach diesem Eingeständnis und hielten die Lippen fest zusammengepresst, um sich weitere Kommentare zu verkneifen. „Während wir hier sprechen, müssten schon zwei Mann auf mich am Kontrollpunkt warten,“ sagte Mason nach einem Moment zu Grantham. „Mein Plan war, Cortez direkt von der Küche in den Block C zu bringen, und zwar noch vor Schichtende.“
„Was du heute kannst besorgen, und so weiter“, gab ihm Grantham Recht. „Am besten komme ich gleich mit und schau mir die Sache an.“ Sein Gesicht Arndt zuwendend, fragte er: „Sind sie auch auf dem Weg dorthin?“
„Die Sache ist so, Herr Oberst“, erwiderte Arndt, „Niemeyer wartet auf mich am Posten 13, und am besten gehe ich voraus und bringe ihn zur Schutzhaft in den Block D.“
„Okay“, nickte Grantham, „gehen Sie voraus, und wir lassen Ihnen ein paar Minuten Zeit, bis Sie den zentralen Kontrollpunkt passiert haben.“
Niemeyer und die Wache auf Posten 13, die offenbar schon erwartungsvoll den Flur entlang gespäht hatten, warfen Arndt beide neugierige Blicke zu, als er aus dem Büro trat. Arndt näherte sich ihnen mit gespielter Nonchalance, pfiff dabei die ersten Takte des Allegros aus Mozarts Klavierquartett in G-Moll. Dieses Stück war während der Grundausbildung sein ständiger Begleiter und geistiger Trost auf endlosen Märschen im Laufschritt und mit vollem Marschgepäck gewesen.
„Danke fürs Babysitten, Stepanovich,“ sagte Arndt zum Wärter, als er auf den Posten zutrat.
„Keine Ursache, Sergeant,“ gab der Wärter zurück.
„Okay, Mr. Niemeyer,“ sagte Arndt zu Niemeyer, ohne anzuhalten. „Auf geht’s.“ Der überraschte Häftling musste ihm nachhechten, um aufzuholen. Dann gingen sie einen Moment hintereinander, als sie am Raumpfleger, einem Häftling, vorbei kamen, der in Socken methodisch den Linoleumboden auf Hochglanz bohnerte.
Arndts Meinung nach merkte Niemeyer erst, dass etwas nicht stimmte, als der Sozialarbeiter im Büro von Block B verschwand und ziemlich lange mit dem Wachhabenden dort sprach, während er den Häftling gleich hinter dem Haupttor zum Block warten ließ. Als dann alle drei zusammen den langen Korridor entlang zur Station B-4 gingen, vorbei an den meist leeren Zellen und dunklen Versorgungsgängen zwischen Reihen offener Toiletten und Duschen, war eigentlich kein Zweifel mehr möglich. Ein Verwaltungsangestellter hätte normalerweise nie einen Häftling den ganzen Weg zurück zu seiner Station gebracht, denn das war Aufgabe der Schließer.
„Okay, Mr. Niemeyer“, sagte Arndt ruhig, sobald sich der Schlüssel in der vergitterten Tür der Station drehte, „packen Sie Ihre Sachen zusammen und bringen Sie Ihren Spind mit.“
„Sie werfen mich ins Loch“, äußerte Niemeyer. Es war nicht als Frage gemeint.
„Das dient zu Ihrem eigenen Schutz“, erklärte Arndt.
„Aber Sie haben doch selbst gesagt, ich hätte mir nichts vorzuwerfen“, sagte Niemeyer kläglich.
„Haben Sie ja auch nicht“, sagt Arndt mit Bestimmtheit, „Sie kommen in Schutzhaft, das ist keine Strafe.“
„Ich will da nicht hin.“
„Kann ich Ihnen nicht verdenken“, stellte Arndt in nüchternem Ton fest. „Aber es gibt keine andere Wahl. Die Vorschriften lassen in dieser Hinsicht keinen Spielraum.“ Noch vor drei Monaten hätte sich Arndt keinesfalls in einem offenen Block wie diesem mit einem Häftling auf Diskussionen in Bezug auf eine Änderung des Haftstatus eingelassen. Er konnte förmlich spüren, wie unwohl dem Schließer hinter ihm bei der Sache war, und wusste nur zu gut, was in dessen Kopf vorging.
„Jetzt kann ich meinen Schulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg nicht zuende machen“, beschwerte sich Niemeyer. Wiederum war es nicht als Frage gedacht.
„Sie werden Ihren Schulabschluss schon noch kriegen, keine Bange. Und ich versichere Ihnen, es handelt sich hier nicht um eine Strafmaßnahme. Das kann sich aber gleich ändern, wenn Sie jetzt nicht sofort mit Ihrem Spind in Gang kommen.“
„Also gut“, sagte der Junge mit eingefallenen Schultern. „Ich nehme an, mein ganzes Zeug ist schon da drin.“ Er hob die Klappe und stocherte kurz im Spind herum, um sich davon zu überzeugen. Dann schulterte er den Kasten und trat den langen Marsch in die Einzelhaft an.
Sie hatten den Flur schon zur Hälfte hinter sich, als ihnen eine Stimme von einer der weiter entfernt liegenden Stationen – mit Sicherheit ein Häftling mit ärztlichen Eintragungen in der Akte – zurief: „Bis später, mein Hübscher! Wirst uns fehlen!“
Arndt brachte es nicht übers Herz, Niemeyers Leibesvisitation und der damit verbundene Demütigung durch die Wärter von Block D beizuwohnen, also verabschiedete er sich bereits im Vorraum, nachdem er dem Jungen erklärt hatte, dass er ihn ab jetzt täglich besuchen und dass alles gut werden würde. Zurück in seinem Büro konnte er förmlich sehen, wie sich der Berg von unbearbeitetem Papierkram immer weiter auftürmte, während sich Ferguson haarklein berichten ließ, was er aus zweiter Hand eh schon über Arndts Erlebnisse wusste. Als es Zeit fürs Abendessen war, der vierte Zug schon seit zwei Stunden Wechselschicht schob und Ferguson sich gar nicht schnell genug ins Wochenende zu Frau und Kind außerhalb des Stützpunktes verabschieden konnte, hatte Arndt immer noch nicht seinen Disziplinarbericht verfasst. Er setzte sich an einen Ecktisch der Messe, weit weg von den diensthabenden Wärtern, und warf nach jedem Bissen einen Satz aufs Papier.
Nachdem er das ausgefüllte Formblatt dem inzwischen diensthabenden Kommandeur der Wachtruppen ausgehändigt hatte, ohne dass er darum herum gekommen wäre, die Niemeyer-Cortez-Geschichte noch einmal mitsamt den saftigen Einzelheiten zum Besten zu geben, machte er sich erneut auf den Weg in Richtung Hochsicherheitstrakt. An jedem Knotenpunkt seines Weges wurde er jeweils von dem erstaunten Wärter gefragt, „Sie haben wohl noch nicht gemerkt, dass Freitagabend ist, was, Sergeant?“
„Und wie ich das gemerkt habe!“ antwortete er jedes Mal, so auch im Vorraum von Block C. „Ich möchte nur ein paar Kleinigkeiten da drin überprüfen, dann seid ihr mich auch schon wieder los.“
„Ach, lassen Sie sich ruhig Zeit, Sergeant, ich bin wahrhaftig nicht in Eile.“
Anstatt auf direktem Weg zu Cortez zu gehen, nahm er wieder den Umweg über den Ostflügel, sodass er erst an Beems vorbeikommen würde. Am Ende des Flügel fand er Lynch an seinem Gitter mit einer Zigarette im Mund.
„Sie haben wohl noch gar nicht gemerkt, das schon Freitagabend ist, Sergeant?“ grinste der Häftling.
„Und wie!“ lachte Arndt noch einmal über die gleiche Bemerkung. „Muss noch ein, zwei Kleinigkeiten zu Ende bringen, und dann bin ich hier raus.“
„Also, ich wollte mich eigentlich erst am Montag bei Ihnen bedanken, aber das kann ich ja genauso gut jetzt tun.“
„Mir danken?“
„Ja genau. Ich weiß ja nicht, was Sie mit Beems heute früh angestellt haben, aber seit Ihrem Besuch hat er den ganzen Tag keinen Piep mehr von sich gegeben.“
Arndt fand das zum Brüllen komisch. „Okay“, lachte er, „das kann ich mir also zugute halten, auch wenn ich mir sicher bin, dass da irgendein Zufall mit im Spiel ist. Der war einfach schon fix und fertig, als ich zu ihm kam. Wahrscheinlich wartet er jetzt schon, dass ich noch mal nach ihm schaue, bevor die Schreierei wieder los gehen kann.“
„Genau. Ja, und dann war da noch, dass der Oberst mich angesprochen hat, nachdem er Ihre Bemerkung auf dem Formular 509 gelesen hat. Hat gesagt, er denkt, ich kann Montag wieder auf Station, wenn ich mich bis dahin benehme.“
„Ah, gut, freut mich“, sagte Arndt. Er fragte sich nebenbei, ob das wohl vor oder nach der Unterhaltung über Lynch im Anstaltsbüro gewesen war. „Wissen Sie, ich freue mich ja, wenn überhaupt jemand das Zeug liest, das ich da notiere.“
„Sergeant, er liest sich das jeden Tag durch.“
„Na gut. Also hören Sie: Ich weiß, dass Sie da draußen schon klar kommen. Lass Sie die Klugscheißer doch einfach sagen, was sie wollen, und ignorieren Sie es einfach. Nur weil irgendein Idiot beweisen muss, wie hirnverbrannt er eigentlich ist, müssen Sie sich ja nicht unbedingt hier oben eine Herberge suchen.“
„Habe ich schon kapiert, das können Sie mir glauben.“
„Na, dann kann ich nur hoffen, dass ihr Jungs hier ein ruhiges Wochenende habt, und wir sehen uns bestimmt am Montag.“
„Danke, Sergeant, bis dann!“
Sogar Beems Gestank schien sich seit dem Vormittag ein bisschen zerstreut zu haben. Die alle Viertelstunde vorgenommenen Einträge im Protokollheft der Suizidwache dokumentierten die durchgängige Monotonie eines ganzen Nachmittags. „Schläft. Schläft. Schläft. Schnarcht. Schläft. ...“ Der Blick in die Zelle zeigte Arndt nichts weiter als regelmäßige Atmung und einen angestaubten schwarzen Hintern, der sich wie bei einem Baby in die Höhe reckte.
„Hip-Hip-Hurra auf den siegreichen Helden“ zischte eine sarkastische Stimme grimmig aus der benachbarten Zelle.
„Guten Abend, Mr. Cortez“, sagte Arndt ruhig. Er ging die letzten Schritte auf die Zelle zu und baute sich direkt vor dem Gesicht des Fieslings auf, hielt unbeeindruckt seinen Blick. Abgesehen von der schwarzgerahmten Berufslehrerbrille in der fettigen Visage erinnerte ihn das dunkle, pockennarbige, dicke Aussehen des Mannes auf Anhieb an zeitgenössische Beschreibungen von Ludwig van Beethoven. Widerlich.
„Na, sind Sie gekommen, um Ihren Sieg zu genießen?“ Die dunklen Augen des Mannes glühten förmlich vor abgrundtiefem Hass.
„Nur weil Sie eine Niederlage haben einstecken müssen, Cortez, bedeutet das noch lange nicht, dass ich einen Sieg errungen habe.“
„Ja, ja, ja, ist ja gut. Aber hören Sie, was ist denn das für ein Gestank hier? Riecht ja, als ob da was verreckt wäre.“
Fast fünf Stunden war Cortez schon in Block C und hatte immer noch keinen blassen Schimmer davon, was es mit Leroy Beems auf sich hatte. Im Grunde war das gar nicht so verwunderlich, denn die Wärter von Hochsicherheitstrakt hüllten sich gegenüber Neuzugängen mit disziplinarischem Strafbestand oft in Schweigen, um nicht durch unpassende Bemerkungen Einfluss auf die anstehenden Verhandlungen zu nehmen. Außerdem eignete sich diese Behandlung ganz gut als eine Art umgekehrter roter Teppich für selbsternannte Halbwelt-Rambos, die noch lernen mussten, dass eine negative Einstellung in der Einzelzelle ziemlich wenig bringt.
„Ach so, ja, das ist nur ihr direkter Nachbar“, klärte ihn Arndt auf. „Ich hoffe, Sie sind nett zu ihm. Der ist nämlich ganz, ganz krank.“
„Krank? Was soll denn das bedeuten, krank?“
„Ein bisschen krank im Kopf, Mr. Cortez. Paranoia. Wahnvorstellungen. Schizophrenie. Am besten nehmen Sie es als eine Lektion dafür, was mit Leuten passiert, die nichts als Feindseligkeiten und Rachepläne gegenüber eingebildeten Gegnern im Kopf haben.“
„Ihre psychologischen Belehrungen können Sie sich sparen, Bergson. Ich weiß doch genau, um was es hier geht.“
„Ach ja?“
„Es geht nämlich nur um die hübsche kleine Schwuchtel, diesen Hoto. Sie wissen ganz genau, dass ich mich nicht an ihm vergangen habe. Das hätte ihm wohl so gepasst. Hat ja drum gebettelt. Sie sind nur eifersüchtig, weil er auf mich steht und nicht auf Sie.“
„Sie machen sich nur selbst das Leben schwer, Cortez, das können Sie mir glauben.“
„Na, geben Sie doch zu, dass Sie auf ihn stehen.“
„Wissen Sie, selbst wenn dem so wäre, hätte das mit der Sache hier wenig zu tun. Selbst wenn dem so wäre, würde ich ihm keine reinhauen und ihm eine Klinge an den Hals halten, um ihm meine Zuneigung zu zeigen.“ Eine halbe Sekunde lang huschte Verwirrung – von Scham konnte keine Rede sein – durch die Augen des Häftlings, bevor sie wieder ihren harten Ausdruck annahmen. „Sie sollten nicht Ihr ganzes Leben damit zubringen, sich selbst ans Bein zu pinkeln.“
„Ich find euch aalglatte schwule Anglo-Hotos alle zum Kotzen.“
„Seien Sie mal ehrlich, Cortez. Sie haben doch Ihr Leben längst nicht mehr im Griff. Vielleicht hatten Sie das noch nie. Sie werden ab jetzt jede Art von Unterstützung brauchen, die Sie bekommen können.“
„Ich brauche keine Hilfe. Ich weiß mir schon selbst zu helfen. Ich werde auch niemanden in meinen Schädel gucken und da drin herumdoktern lassen.“
„Mir soll’s Recht sein“, beendete Arndt das Gespräch. „Wir sehen uns Montag, wenn Sie vorgeführt werden.“ Er wandte sich ab und schritt zielstrebig den Korridor entlang zum Ausgang, wo ihn Bäume, frische Luft und ein Wochenende ganz in Freiheit erwartete.
„Ihr könnt euch alle zum Teufel scheren“, schrie Cortez ihm nach, „dann könnt ihr aalglatten Anglo-Schwulis euch in der Hölle gegenseitig am Schwanz lutschen.“
„Jesus in der Hölle!“ brüllte Leroy Beems auf und rüttelte einige Sekunden lang heftig an der Gittertür heftig auf ihren Rollen. „Jesus herrscht in der Hölle! Aaaaaaaaaaaahhhh!“
Ein kleines feines Lächeln stahl sich über Arndts Gesicht, dessen Züge ansonsten Erschöpfung verrieten: Es war schon ein behütetes Leben, kein Zweifel, und ein gutes Leben obendrein, das ihm da zuteil geworden war. Das Echo von Beems’ viehischem Gebrüll verzerrte sich im Labyrinth der engen Korridore ringsum und verlor sich schließlich. Die Umerziehung von Herman Cortez hatte ihren Anfang genommen.
Auf dem Weg nach draußen kam Arndt durch den Abschnitt des dritten Zuges und hörte, das in dem Zimmer, das Morrell mit mehreren Kameraden teilte, einiger Radau herrschte. Die Töne von Obladi-Oblada waren zu hören, und gedämpftes Lachen drang durch die Tür, sodass er stehen blieb und anklopfte. Tim Higgins öffnet die Tür einen Spalt breit und schaute misstrauisch heraus.
„Sergeant Bergson“, sagte er schließlich, „das haben Sie ja gut abgepasst. – Na, jetzt komm schon rein!“ Er streckte den Arm aus und zog Arndt ins Zimmer, wobei er schnell wieder die Tür zu machte und abschloss. Auf der andern Seite des Zimmers an der Wand links und rechts von Morrells Bett lehnten Luis Martinez und ein anderer langgedienter Wachmann des dritten Zuges, Alex Sinclair, beide noch in ihren Uniformen vom Dienst. Sinclair, ein blonder schmaler Bursche aus dem Bundesstaat New York, hielt eine halbleere Flasche Jim Beam am Hals auf seinem Bein. Morrell, der nur mit T-Shirt, Boxershorts und Dienstmarke bekleidet auf seinem Bett saß, hatte das Weiße Album der Beatles auf dem Schoß und war dabei, opiumversetztes Hasch auf ein Häufchen Zigarettentabak zu zerbröseln und das Ganze in eine alte Pfeife zu packen.
„Gerade rechtzeitig, um uns hier die Honneurs zu erweisen“, grinste Morrell und hielt ihm das fertige Instrument mit dem Stiel zuerst hin.
„Ich nehme besser erst mal einen kräftigen Schluck aus der Flasche, um mir Mut anzutrinken“, entgegnete Arndt.
„Aha“, nuschelte Sinclair, während er Arndt den Whisky reichte. „willst wohl lieber umkippen, bevor es dich in die Knie zwingt.“
„So ist es“, erwiderte Arndt, „das verringert die Verletzungsgefahr.“
Nachdem die Pfeife einige Male die Runde durch die Fünfergruppe gemacht hatte, und den einen oder anderen Hustenanfall verursacht hatte, lümmelten Sinclair und Martinez noch lässiger an der Wand, während Higgins, der zu Sinclairs Füßen gegen Morrells Spind geplumpst war, mit starrem Blick geradeaus auf die Bordüre unter dem Bett des Texaners blickte, als übe die eine ganz besonderen Reiz auf ihn aus. Einige Momente lang waren nur das Album auf dem Plattenspieler zu hören, sowie das Klimpern von Morrells Dienstmarke, während sich seine Schultern zur Musik bewegten. Irgendjemand mit Namen Bill, der irgendwo in einem kleinen eingeschossigen Haus wohnte, unterzog sich gerade einer peinlichen Befragung hinsichtlich seiner Jagdgewohnheiten.
„Dann haben die also Cortez gleich neben Beems in die Zelle gepackt“, begann Morrell plötzlich.
„Genau so ist es“, erinnerte sich Arndt, „und es schien ihn nicht besonders erfreut zu haben.“
„Der Blödmann kam mir immer schon ein bisschen suspekt vor“, fuhr Morrel fort, „will mal so sagen: Sein Verdachtsquotient lag weit über dem der anderen Gefangenen.“
„Ja, fast so verschlagen wie Nixon“, folgerte Arndt.
„Na, na, na“, warf Martinez ein, „das reicht jetzt aber in Bezug auf unsern Oberkommandierenden, der sich persönlich um diese nette Unterkunft, unsere Sicherheit und unser Wohlergehen gekümmert hat.“
„Tut mir Leid, Luis“, erwiderte Arndt, „du hast ja Recht. Ich hätte sagen sollen, dass er fast so verschlagen wie Spiro Agnew ist.“
„Das trifft die Sache schon eher“, grinste Martinez.
„Also“, setzte Morrell wieder an, „Wo soll’s denn hingehen? Wieder mal rüber in den Club?“ Die Rede war vom Sportclub Blumenau, einem Hinterzimmer, das einem Dorfgasthaus gleich außerhalb des Geländes, direkt neben dem Militärgefängnis, angeschlossen war. Eigentlich war es für Siegesfeiern der lokalen Fußballmannschaft vom nahe gelegenen Sportplatz gedacht, aber für viele Angehörige der Wachtruppen des Gefängnisses repräsentierte es fast die gesamte Bandbreite deutscher Kultur.
„Na, also an sich hatte ich vor, in die Stadt zu gehen und mein Glück in der Disko zu versuchen“, antwortete Arndt. „Habt ihr Lust mitzukommen?“
„Ach nein, ich muss morgen noch mal eine Frühschicht runterreißen, also bleibe ich besser da und saufe mir heute abend bloß die nötige Bettschwere an. Aber morgen könnte ich.“
„Morgen fahr ich vielleicht nach Heidelberg“, sagte Arndt, „aber wenn nicht, schaue ich auf jeden Fall vorbei, oder wenn ich bei Zeiten zurück komme.“
„Alles klar.“
„Na, dann Danke für das Pfeifchen, Jungs. Ich werde mich schon noch revanchieren.“
„Kein Problem“, sagte Morrell. „Aha, jetzt geht’s los“, rief er, sprang auf und begann, zur Musik der Beatles zu singen und zu tanzen. Es ging um eine Äbtissin und eine Feuerwaffe, Arndt war sich da nicht ganz sicher. Martinez und Sinclair stimmten immer dann ein, wenn der Refrain an die Stelle mit der warmen Knarre kam, die der Quell jener überirdischen Freude war, um die es in diesem Song ging.
Im Schein der gleißenden Lichtinseln des Außenzauns lag das Militärgefängnis unter dem klaren, aber mondlosen Himmel wie ein Spiel, dass sowohl die Spieler als auch die Zuschauer vergessen hatten zu besuchen. Nachdem er die stillgelegten Gleise neben der Kaserne überquert und durch eine stockdunkle Senke gekommen war, wo die einzige Zufahrtsstraße um einen selten genutzten Schießstand herum verlief, schlenderte Arndt über den Anstaltsparkplatz und staunte über die Helligkeit der Lichter. Der Wachmann im ersten Wachturm nickte und winkte ihm zu, wohingegen der Mann im Wachhäuschen der Sicherheitsschleuse so vertieft in seine Lektüre schien, dass er gar nicht darauf wahrnahm, ob sich jemand näherte.
Es war auch egal, denn Arndt bog kurz vor der Sicherheitsschleuse scharf nach rechts ab, überquerte ein schmales Rasenstück und bückte sich, um durch ein Loch im Zaun, das genau die Größe eines Menschen hatte, auf den benachbarten deutschen Sportplatz zu gelangen. Diese Lücke im Zaun, die genau unter der Nase des Kontrollpunktes des vorderen Tores lag, wurde regelmäßig alle sechs Monate von Technikern des Stützpunkts repariert und war ebenso regelmäßig gleich am nächsten Tag wieder da. Allerdings erschien die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwelche Deutschen oder gar russische Spione sich genau hier im Rachen des Gefängnisses auf den Stützpunkt vorgewagt hätten, einfach zu gering, während die Dringlichkeit für dienstfreie Wachtruppen, so schnell wie möglich zur nächsten Tränke zu kommen, ohne den kilometerlangen Umweg durch den Haupteingang gehen zu müssen, über jeden Zweifel erhaben war.
Die klare Nacht, das duftende feuchte Fußballfeld und das nahe Summen der Außenzaunbeleuchtung vereinigten sich zu dem Eindruck eines unvergesslichen Moments. Als er einen Blick auf seinen eigenen Schatten mit seinem Grasrand blickte und dann auf die Linien des Spielfelds, und sich schließlich um hundertundachtzig Grad zu den Lichtern umdrehte, fiel ihm das Football-Spiel gegen Jefferson im letzten Schuljahr ein: Sie hatten auf regennassem Rasen wie diesem gespielt. Die J-Hawks, die im vierten Viertel vier Punkte zurück lagen, waren in der Offensive und hatten Arndts Mannschaft immer weiter zurück getrieben. Schon zu Beginn des Spiels war er auf dem Rasen ausgerutscht, hatte seinen Einsatz verpasst und sprintete mit der Kraft der Verzweiflung, um den Gegner an der Linie noch abzufangen, als der Quarterback der J-Hawks zu einem hammerharten Wurf von der gegenüberliegenden Seitenlinie ansetzte. Während Arndt noch mit zurückgewandtem Blick nach vorn hechtete so schnell er konnte, hatte er den Ball, von den Lichtern geblendet, aus den Augen verloren und ahnte mit Schrecken, dass er den spielentscheidenden Touchdown der gegnerischen Mannschaft durch seinen Fehler zu verantworten haben würde.
Im nächsten Moment war der Ball einfach da gewesen, zum Greifen nahe, der Spieler der Jefferson-Mannschaft war gestolpert und schlitterte auf dem Arsch übers Feld, weil er sich zu schnell nach dem flach geworfenen Ball umgedreht hatte, und Arndt hatte den Ball berührt, war unter ihm und bei ihm, als er endlich aufschlug, und er hielt ihn fest gegen seine Brust gepresst. Es war ihm sogar gelungen, wieder etwa fünfundzwanzig Meter zurück ins Mittelfeld zu laufen, bevor ihn zwei Typen von beiden Seiten gleichzeitig anrempelten und er Hals über Kopf zu Boden ging wie eine vom Blitz getroffene Eiche.
Die Tribüne der Gastgeber explodierte vor Begeisterung und die ganze Spielerbank fiel über ihn her, als er vom Spielfeld kam, doch der Trainer hatte ihn nur angeschaut, den Kopf geschüttelt und gesagt: „Ich habe noch nie jemand gesehen, der so verdammt viel Glück hatte wie du, Bergson.“
Arndt musste ihm Recht geben, denn noch am selben Abend hatte Cindy Wetmore (immer außen links in der zweiten Reihe der Cheerleader-Pyramide, mit Apfelduft im Haar) nach dem Spiel auf dem Parkplatz auf ihn gewartet. Sie waren an den Coralville Lake gefahren und sie hatte sich ihm hingegeben, gleich beim Wasser unter den Bäumen, dabei hatte er bis zu diesem Abend nicht mal geahnt, dass ihr überhaupt etwas an ihm lag.
Was mochte nur aus Cindy Wetmore geworden sein, fragte er sich. Wahrscheinlich war sie Cheerleader an der Uni in Iowa City geworden, dachte er sich, dann musste er lachen, denn es fiel ihm ein, dass die Hawkeyes 12-28-2 gespielt hatten in den Jahren, in denen er dort hätte sein können. Na, Gott sei Dank war er zur Army gegangen! Wieder musste er lachen, dann wandte er seinen Blick ein letztes Mal den im harten Licht daliegenden Betonmauern des Militärgefängnisses hinter dem System von Zäunen zu, den Wachtürmen und dem im Dunkel dahinter zu erahnenden Waldrand zu, Richtung Lampertheim.
Vielleicht hätte er jetzt schon in seinem ersten Jahr in der National Football League sein können, wenn er nur mit der Uni weiter gemacht hätte, wenn er dort gut gespielt und sich nicht verletzt hätte, rekrutiert worden wäre. Ja, dann hätte er wirklich ein gesegnetes Leben gehabt. Aber da oben am Mast wehten die Stars-and-Stripes, und egal wie verfehlt die Außenpolitik der Nation sein mochte, kein Bergson würde dieser Fahne je den Rücken zukehren. Kein Bergson aus Iowa hätte einfach weiter Football gespielt, wenn er wusste, dass Andere im Dschungel von Indochina oder wo auch immer kämpften und starben.
Er bahnte sich seinen Weg am ausgelassenen Lärm vorbei, der vom Nachtleben im Sportklub stammte, stellte sich an die Bushaltestelle an der Straße beim Gasthaus. Zehn Minuten mit dem Bus brachten ihn von dieser verschlafenen Vorstadt im Norden zu einer etwas weniger verschlafenen Straßenbahnhaltestelle in Sandhofen, und eine weitere Viertelstunde mit der Straßenbahn brachte ihn direkt auf den Paradeplatz in der Mannheimer Innenstadt. Dort würde jede Erinnerung an das Summen der Außenzahnbeleuchtung und das wiederhallende Scheppern der Sicherheitstore beim Öffnen und Schließen verblassen.
Arndt fand, dass er in dieser alten württembergischen Stadt ganz gut zurecht kam mit seinem Schuldeutsch, das er unter dem wachsamen Ohr einer echten Rheinländerin gelernt hatte, die mit ihrem amerikanischen Mann kurz nach dem Krieg in die Staaten gegangen war. Selbst am Militärgefängnis ließ man ihn regelmäßig ausrufen, um Larkin im Anstaltsbüro den Hörer aus der sprachunbegabten Hand zu nehmen und zu übersetzen. Unweigerlich ging es dabei darum, ihn dem Wachtrupp für irgend einen Verschub von neu zugesprochenen Häftlingen in deutsche Haftanstalten zuzuteilen. Einmal hatte er sogar spontan als Dolmetscher fungiert, als ein türkischer Gastarbeiter versucht hatte, einen Löffel und eine Kaffeetasse aus der Anstaltsmesse in seiner Tasche zu stehlen. Die Ironie, die in der Wertschätzung der Army für seine Talente lag, kannte jedoch keine Grenzen.
Der Vater seiner Mutter hatte Kunst am Coe College in Cedar Rapids unterrichtet. Sie hatte als Teenager Grant Wood, Malcom Metcalf, Marvin Cone und andere Maler der gefeierten Stone-City-Künstlerkolonie der Dreißiger kennen gelernt. Sie erzählte gern, wie der Maler Cone, nachdem er im ersten Weltkrieg eingezogen worden war und die Army sein ausgesprochenes Talent mit dem Pinsel entdeckt hatte, in Frankreich Panzer mit Tarnfarben angemalt hatte. Arndt fand, er hätte auf diese Anekdote noch eins draufsetzen können: Während der Einführungswoche im Grundausbildungslager hatte er einen ganzen Tag damit zugebracht – vier Stunden Lesen am Vormittag, vier Stunden Verständnistest am Nachmittag –, seine Deutschkenntnisse zu demonstrieren, wobei er sich den Status eines Übersetzers der Stufe 3 erworben hatte. Als dann allerdings Monate später aus dem Pentagon die endgültigen Anweisungen für die Abgänger seiner letzten Ausbildungskompanie eintrafen, bekamen alle Kandidaten, deren Nachnamen mit den Buchstaben A bis M anfingen, Marschbefehle für Vietnam, während alle anderen ausgerechnet nach Deutschland kamen. Natürlich ging es nicht um den Dienst in Vietnam, denn Arndt hatte ja von Anfang an in ein Kriegsgebiet geschickt werden wollen und auch damit gerechnet. Aber die bei der Army nachgerade zur Routine gewordene Vergeudung von Talent, Einsatz und Intellekt fand er beunruhigend.
Auf den ersten Blick wirkte die Bausubstanz von Mannheim eher monoton, als bestünde sie vollständig aus fünfgeschossigen Gebäuden aus den Fünfzigern. Alliierte Bomber hatten die Stadt im Krieg systematisch eingeebnet. Ein einziger Angriff im September 1943 hatte ein Viertel der Bevölkerung obdachlos gemacht. Aber die strategische Bedeutung des Ortes, der im Dreißigjährigen Krieg mehrmals zerstört und eingenommen worden war, und dessen Namen erstmals im Jahr 766 urkundlich erwähnt wurde, blieb nach wie vor relevant.
Für Arndt lag der Hauptreiz der Stadt in der Mannheimer Schule des achtzehnten Jahrhunderts, die Wien ernsthaft musikgeschichtliche Konkurrenz gemacht hatte als Geburtsstätte der Klassik. Gemeinsam mit dem berühmten Spross C.P.E. Bach führten Johann und Karl Stamitz, Vater und Sohn, Innovationen in Form und dynamischer Umsetzung ein, die einen klaren Einfluss auf die nachfolgende Musikentwicklung genommen hatten, darunter auf die Musik Beethovens, des Meisters. Mozart, Goethe, Klopstock, Lessing, Wieland, Berlioz und Wagner waren alle nach Mannheim gekommen, und Schiller hatte hier Zuflucht gefunden, als er von der Stuttgarter Obrigkeit zur Festnahme gesucht wurde, nachdem er Die Räuber geschrieben hatte.
Die Diskothek Countdown erstreckte sich über den gesamten ersten Stock eines gewerblich genutzten Gebäudes nicht weit vom Paradeplatz, irgendwo in dem nach Vorlagen des siebzehnten Jahrhunderts rekonstruierten quadratischen Kaninchenbau der Mannheimer Innenstadt. Arndt quetschte sich durch eine brabbelnde Ansammlung von jungen Leuten draußen auf dem Bürgersteig, wich auf der Treppe nach oben mehrmals irgendwelchen herunter wankenden Gestalten aus und stand schließlich am Rande der Tanzfläche, wo über den hüpfenden Köpfen die Zigarettenqualmwolken von wirbelnden Scheinwerfern zerteilt wurden. Der monoton stampfende Rhythmus der Musik, die gerade gespielt wurde, und der zugehörige, unzusammenhängende Text waren nicht direkt der Mannheimer Schule zuzuordnen, aber die Mannheimer Jugendlichen waren es offenbar trotzdem zufrieden.
Arndt warf einen Blick zur rechteckigen Bar, die sich fast über die gesamte Länge der Rückwand des Lokals erstreckte, und entdeckte einen einzelnen freien Platz, und zwar ganz in seiner Nähe an der hinteren Ecke, mit gutem Blick auf die Tanzfläche über den Tresen hinweg und durch die gegenüberliegenden Gäste. Er kletterte auf den Barhocker und bestellte einen Whisky mit Eis, um zumindest an diesem Abend nicht durcheinander zu trinken. Es dauerte allerdings nicht lange, da trat genau das ein, was Arndt befürchtet hatte, seitdem er Platz genommen hatte: Der benebelte, übergewichtige Typ neben ihm, der Mitte Fünfzig sein musste, unterbrach die „Stille“ und sprach ihn an.
„Sie sind amerikanischer Soldat“, sagte der Mann in ganz ordentlichem, wenn auch nicht akzentfreiem Englisch.
„Genau so ist es“, gab Arndt in seinem gewähltesten Deutsch und wendete sich dem sich lichtenden blonden Schopf mit der Adlernase neben ihm zu. „Ich bin Feldjäger, um genau zu sein.“ Er verwendete den deutschen Fachbegriff Feldjäger auf die Gefahr hin, besserwisserisch zu wirken, aber sein Gegenüber war geradezu elektrisiert von dieser Mitteilung.
„Ach, wirklich?“ kam es wie aus der Pistole geschossen auf Deutsch zurück, und der Mann saß plötzlich kerzengerade da, wobei er vergeblich versuchte, mit dem karierten Sakko seinen Bierbauch zu verdecken. „Ich war selbst mal Feldjäger, ist schon Jahre her, im Russlandfeldzug.“ Fast gedankenverloren fügte er dann noch hinzu, „bei Charkow.“
Das wiederum machte Arndt neugierig, und schon war eine Unterhaltung in Gang, auch wenn der ohrenbetäubende Lärm in der Disko die Gesprächspartner zwang, sich praktisch direkt gegenseitig ins Gesicht zu schreien, damit man überhaupt sein eigenes Wort noch verstand. „Charkow?“, hakte Arndt nach, „lieber Gott! Charkow ’42 oder ’43?“
„Aha,“ die Augen des Mannes weiteten sich überrascht. „Sie kennen sich ausgesprochen gut in der Geschichte aus. Und Sie sind wirklich Amerikaner?“
„Ganz sicher“, grinste Arndt und wusste das im Grund fast beleidigende Kompliment zu schätzen. „Man muss doch kein Geschichtsprofessor sein, um über die Ostfront Bescheid zu wissen, nämlich dass es der größte, teuerste und fürchterlichste Feldzug der ganzen Militärgeschichte war.“
„Ich hatte Recht: Sie kennen sich ausgesprochen gut in Geschichte aus. Ich war dabei, als wir Charkow ‘42 einnahmen, und ich war immer noch da, als die Sowjets uns die Stadt ’43 wieder abgenommen haben. Ich habe immer noch Träume von jenem verfluchten Winter und wache auf, zitternd bis auf die Knochen. Manchmal kommt es mir vor, als sei ich dort verreckt und hätte es gar nicht gemerkt, weil mir zu kalt war.“
Ein plötzlicher Moment der Stille zwischen zwei Liedern ließ die Unterhaltungen ringsum überlaut ans Ohr dringen, sodass Arndt kurz zusammenschreckte. Er erinnerte sich an viele Bücher, die er gelesen hatte, und in Blitzesschnelle spulten vor seinem geistigen Auge Hunderte von Fotos ab, die er gesehen hatte, und auf denen hart gefrorene Leichen, wie Klafterholz gestapelt, abgebildet waren, Männer, die von Gleisketten auf verschlammten Wegen zu Pfannkuchen zermalmt worden waren, Erschießungskommandos, die ihre Opfer im guten Dutzend am Rande von hastig ausgehobenen Massengräbern erschossen, Frauen mit Tüchern, deren Trauer über ihre erschlagenen Kinder zum Himmel schrie. Hier, vor ihm, saß also ein Mann, der dort gewesen war. Ein Feldjäger wie er.
Der ältere Mann ihm gegenüber schien seine Gedanken zu lesen. „Übrigens“, sagte er vertraulich, nachdem ein neues Lied durch die Lautsprecher zu dröhnen begonnen hatte, „ich bin nie Nazi gewesen, falls Sie das vermuten. Ich habe diese arroganten Schweinepriester gehasst wie die Pest. Aber ich bin und bleibe Patriot, stolz auf mein deutsches Vaterland.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Arndt, „ich habe es gehasst, was mein Land in Vietnam angerichtet hat. Aber ich bin trotzdem hingegangen und habe meine Pflicht getan.“
„Genau so ist es“, nickte der Mann ernst. „Wir sind also wahre Kameraden. In gewissem Sinne hat jeder von uns beiden auf seine eigene Art gegen die Kommunisten gekämpft, um seinem Land zu dienen.“
Arndt war sich nicht so sicher, ob er diese Aussage so unterschrieben hätte, allerdings fiel ihm auf die Schnelle auch keine passende Retourkutsche darauf ein. Es wäre nicht gerade klug gewesen zu verlautbaren, was für ein Glück es doch war, dass die Russen die Deutschen verdroschen hatten, und mit Sicherheit konnte er auch nicht sagen, dass er die kommunistischen Ideale gar nicht mal so schlimm fand, zumindest nicht theoretisch gesehen. „Wissen Sie“, sagte er endlich mit einem Lachen, „die einzigen Kampfhandlungen, in die ich je verwickelt war, betrafen Kriminelle in meiner eigenen Armee.“
Doch sein Trinkgefährte fand an der Bemerkung nichts Lustiges. „Ein Militärpolizist in Kriegszeiten kann oft gar nicht sagen, wie viele wahre Feinde er eigentlich hat“, antwortete er rundheraus, und von da an verkam die Unterhaltung zur einer Folge von immer freizügigeren Monologen. Arndts Gesprächsanteil verkümmerte allmählich zu unbestimmtem Kopfnicken und bedeutungsloser Mimik.
Der Mann war kein Nazi im strengen Sinne, und doch verstieg er sich zu der Aussage, dass die Nazis in Bezug auf die Kommunisten Recht gehabt hatten. Kommunismus und Sozialismus waren abscheuliche, gottlose, seelenlos pervertierte Formen von Sklaverei, die den menschlichen Geist erstickten. Die Deutschen, die Skandinavier, die Engländer und die Amerikaner waren natürliche Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus. Der Krieg war ja kaum zu Ende gewesen, da hatten die Amerikaner den Kampf gegen dieses heillose System fortführen müssen, den die Deutschen verloren hatten.
Im Verlauf der Tirade blieb es nicht aus, dass Arndts Zechkumpan unmerklich, aber in zunehmendem Maße die Kommunisten mit den Russen allgemein gleichzusetzen begann, die Russen mit den Slawen, die Slawen mit den Mongolen, die Mongolen mit den Asiaten, die Asiaten wiederum mit allen dunkelhäutigen Rassen, bis sich irgendwann der Kreis schloss. Die Juden brachte er zwar nie zur Sprache, doch dass es für ihn nahe lag, die Juden selbstverständlich zu den Asiaten und den Dunkelhäutigen zu rechnen, war kaum mehr als eine Fußnote wert in diesem Wirrwarr von rassistischem Gequatsche. Gerade als Arndt die Nase voll von diesen Stammtischreden hatte und zum verbalen Gegenangriff ausholte, wechselte der alte Soldat plötzlich das Thema: „Sind Sie noch Junggeselle?“
„Noch keine Frau in Sicht, das mag wohl sein“, äußerte sich Arndt vorsichtig.
„Nun ja, Sie sind vernünftig, ansehnlich, und haben Ehrgefühl im Leib“, verkündete der Mann. Er streckte seine rechte Hand aus und ließ sie auf Arndts Bein kurz überm Knie zu ruhen kommen. „Sie sollten mal zu Besuch kommen und meine Tochter kennen lernen. Vielleicht wäre die was für Sie.“
Arndt gab sich wieder damit zufrieden, irgendwelche unbestimmte Gesten zu machen, und die Unterhaltung schlief ein. Nachdem er wiederholt seinen Blick auf der Suche nach Erlösung in die Runde am Tresen und über die Tanzfläche wandern lassen hatte, sah er schließlich jemand, den er von früheren Besuchen des Lokals kannte, die Treppe von der Straße herauf kommen. „Ach, da drüben sehe ich gerade einen Freund von mir“, sagte er erfreut zu dem jetzt verdrossen dreinschauenden, alternden Schmerbauch neben ihm. „Ich muss mal rüber, ihm was sagen.“ Er trank seinen Whisky aus und arbeitete sich an der Bar entlang zur anderen Seite vor.
Das Gedränge der Leute, die kamen oder gingen, die zur Toilette hasteten oder erleichtert wieder kamen, die zur Bar pilgerten, um sich neue Getränke zu holen, oder soeben von dort zurückkehrten und wie auf Eiern gingen, um nichts zu verschütten, und hinter befreundeten oder fremden Menschen her waren: Dieser ganze Trubel vermischte sich mit den wirbelnden, stampfenden, kopfwackelnden Tänzern im Bann des pausenlosen Schlagzeuggetrappels, bis jeder Sinn und Zweck egal welches Vorhabens fragwürdig schien. Durch diesen Hexenkessel arbeitete sich Arndt geduldig und mit Entschuldigungen nach links und rechts vor, bis er in Rufweite eines jungen Mannes mit unglaublich schwarzen Haaren und sehr engen, sehr blauen Hosen, mit einem geblümten Hemd und kamelfarbenem Pullover, beides genauso eng wie die Hosen, kam. Der Jüngling stand mit dem Gesicht zur Bar und war dabei, irgendwelche Getränke vom Barmann in Empfang zu nehmen.
„Behar“, rief Arndt dem Rücken den Jungen zu, „Behar.“
Behar Kowatschi war ein siebzehnjähriger Zigeuner – oder Sinto, wie er beharrlich jedem, den er traf, einbläute –, der in krassem Widerspruch zu allen landläufigen Vorstellungen von Sinti stand. Anstatt bunte ethnisch typische, eigenwillige Kleidung zu tragen, gehörte er zu den am schärfsten und modischsten angezogenen Besuchern der Disko. Er hatte nie in seinem Leben in einem Pferdefuhrwerk gehaust, war nie von einem Ort zum anderen gezogen, sondern war in Mannheim geboren und hatte dort sein Leben lang im selben Haus gewohnt. Sich mit Kleinkriminalität oder Betrügereien über Wasser zu halten war ihm vermutlich noch nie in den Sinn gekommen, denn er war, wie schon sein Vater vor ihm, von Kindesbeinen an ein hervorragender Automechaniker gewesen, der so gut wie jedes Fahrzeug in Windeseile wieder auf Trab brachte, oft mit raffinierten, selbstgebauten Werkzeugen und Ersatzteilen.
Arndt hatte ihn vor einigen Monaten kennen gelernt, und war gelegentlich mit Behar und seinen Kumpeln noch auf einen letzte Runde in ruhigere Kneipen gezogen, nachdem die Tanzerei ihren Reiz verloren hatte. Behar sprach ein gewählteres Deutsch als die meisten Deutschen selbst, und in diesem Deutsch fragte er Arndt über Amerika aus, wollte alles und jedes wissen, und Arndt teilt ihm bereitwillig das Wenige mit, was er über seine Heimat wusste. Als er jemand seinen Namen im Getöse des Diskorummels schreien hörte, drehte der junge Sinto sich mit einem strahlenden Lächeln zu dem jungen Amerikaner um. „He, Arndt“, sagte er, „wie geht’s denn so?“
„Behar, pass auf“, sagte Arndt, „sei so gut und tue einfach so, als würdest du dich riesig freuen, mich zu sehen.“
„Na, aber das tue ich doch sowieso, oder nicht?“ fragte Behar ebenso amüsiert wie verwirrt.
„Ja, klar“, gab Arndt zu, „aber da drüben sitzt so ein alter Depp, dahinten, hinter dir, der mich mit seiner Tochter verkuppeln will.“
Der Sinto drehte mit kalkulierter Absichtslosigkeit seinen Kopf und warf einen Blick auf die Gäste gegenüber. Dann wandte er sich langsam wieder Arndt zu, nunmehr mit düsterem Gesichtsausdruck. „Meinst du den alten Hitlerknecht?“
„Jawohl, genau den.“
„Wahrscheinlich will der dich eher für sich ganz allein,“ grollte Behar. Seine Bemerkung war ganz offensichtlich nicht als Witz gemeint, weder vom Ausdruck noch von der Stimme her. „Mach dir mal keine Sorgen, den halten wir dir schon vom Leib.“
„Dann kennst du ihn also?“
„Allerdings kenne ich den“, erklärte Behar geheimnisvoll, „und er kennt auch mich.“ Dann drehte er sich noch mal ganz unverblümt zu ihrem Gesprächsgegenstand um. Der alte Soldat war inzwischen aufgestanden, lehnte sich mit der rechten Hand gegen den Tresen, und tat auf gar nicht unrealistische Weise so, als würde er sich mit der Linken an seinem Schlips erhängen. Sein Kopf hing zur Seite weg, seine Zunge obszön aus dem verdreht klaffenden Mund gestreckt.
„Ja, mach mal, Alter, das wäre doch echt mal ein Glücksfall“, lachte Behar. „Jetzt komm, Arndt, nimm mal die beiden Gläser“, fuhr er fort und reichte Arndt zwei der Getränke. „Die Mädchen halten drüben bei der Wand einen Platz frei.“ Er ging Arndt voran durch die schwankende Menge, bis sie an der Wand waren, wo nicht zwei, sondern gleich drei junge deutsche Frauen geduldig auf die Rückkehr des hübschen Zigeuners warteten, und zwar nicht an einem Tisch, sondern nur an einer Art Tresen, der in die Wand eingebaut war.
Arndt fühlte sich von der Situation leicht überrumpelt, aber die Frauen schienen wegen seiner Anwesenheit nicht enttäuscht zu sein, und auch er kam sofort wieder in Stimmung. Arndt wusste, das Behar bereits verlobt war – an traditionellen Sinto-Maßstäben gemessen viel zu spät – mit einem angemessen keuschen, sehr jungen Sinto-Mädchen, die man niemals ohne eine stattliche Eskorte männlicher Angehöriger nachts aus dem Haus gelassen hätte. Aber Anna, Gretchen und Liesel – die drei Rheintöchter, wie Arndt sie in Gedanken gleich bezeichnete – interessierten sich ohnehin anscheinend nur fürs Tanzen, und das, sobald wie möglich. Sie schleppten abwechselnd Arndt und Behar auf die Tanzfläche ab, bis die jeweils Dritte von Zeit zu Zeit von einem anderen Mann aufgefordert wurde, und die Welt – abgesehen von ehemaligen deutschen Soldaten, Gefangenen, Irren und anderen Geächteten natürlich – kehrte vorläufig in den harmonischen Zustand zurück, für den sie gedacht war.
Arndt tat die Generation seiner Eltern Leid, da die Tanzriten aus ihrer vorsintflutlichen Zeit auf die Rock’n’Roll-Generation derart verknöchert und absurd wirkte. Natürlich gab es immer noch Leute, die darauf bestanden, es gebe nach wie vor bestimmte Tanzschritte und Bewegungen, und die sogar auch noch Namen für diesen Unsinn fanden, aber Arndt hatte noch nie irgendjemand in der Menge diesen selbsternannten Wichtigtuern auch nur die geringste Beachtung schenken sehen. Manche Leute benutzten ihren Kopf zum Tanzen, andere ihre Füße, wieder andere ihre Arme, Hüften oder Hände. Einige Leute schließlich schienen schlicht von locomotor ataxia im Endstadium befallen zu sein.
Der passende Name für Behars Tanzstil wäre dagegen „Die Trance“ gewesen, denn er stand kerzengerade da mit erhobenem Kopf, während seine Gesichtszüge eine geradezu überirdische Gelassenheit ausdrückten. Dabei ruhte die eine Hand auf der eigenen Hüfte und die andere war mit der Handfläche nach oben etwa auf Schulterhöhe ausgestreckt wie ein Versatzstück, um das seine Partnerin herumtanzen musste. Die ganze Vorführung wurde durch unbestimmte Bewegungen seiner Füße und Knie abgerundet. Als Gretchen die beiden anderen Rheintöchter schließlich wieder um sich versammelte mit der Warnung, ihr Vater würde sie mit Sicherheit umbringen, wenn sie nicht auf der Stelle nach Hause käme, war Arndt schon ziemlich außer Atem und nass geschwitzt vor lauter Gefuchtel und Geschaukel. Anders dagegen Behar, der völlig unberührt und mit ordentlich gelegtem Haar dastand, als wolle er die ganze Nacht durchtanzen.
„Wollen wir zum Fluss gehen, noch was rauchen?“ wurde Arndt von dem Sinto gefragt, nachdem sie die Mädchen zu ihrer Straßenbahnhaltestelle gebracht hatten.
„Ausgezeichnete Idee“, lächelte Arndt. Sie kehrten den belebteren Straßen den Rücken und bogen in eine der wenig benutzten Seitenstraßen im Südwesten der Innenstadt ein, die zur Bismarckstraße führte, zum kurfürstlichen Schloss und zum Flussuferpark. Arndt fiel gleich auf, dass Behar womöglich noch eine Spur ernster wirkte als üblich.
Sie waren schon über die erste Querstraße hinaus, als Behar plötzlich stockstill vor einem Uhrmachergeschäft stehen blieb. Arndt war schon ein paar Schritte weiter, bevor er ebenfalls stehen blieb und sich umdrehte, um zu sehen, was los war. Behar kehrte dem jungen Amerikaner den Rücken zu, drehte sich dann blitzschnell um hundertachtzig Grad auf dem rechten Absatz, hob den linken Fuß bis zur Hüfte an und stieß ihn direkt nach hinten in die gläserne Vordertür des Ladens.
Das Glass vibrierte einen Moment, dann zersprang es in Tausend Scherben und fiel in sich zusammen dort im Eingang des Geschäfts. Die Alarmanlage begann zu schrillen, und Arndt ließ bereits vor seinem geistigen Auge die gesamte Karriere bei der Military Police Revue passieren. Aber Behar ging es gar nicht, wie Arndt befürchtet hatte, um eine Diebestour.
Der Sinto richtet sich wieder kerzengerade auf, zuckte mit den Achseln, und ging ganz gelassen auf Arndt zu, als ob weiter nichts vorgefallen sei. Arndt schlug das Herz bis zum Hals, aber er fand erst die Sprache wieder, als sie einige Schritte in ihre ursprüngliche Richtung gegangen waren und sich das aufdringliche Schrillen der Alarmanlage allmählich hinter ihnen verlor. Mit jedem Augenblick, den das Geräusch von Polizeisirenen in der Ferne weiter auf sich warten ließ, wuchs seine Zuversicht.
„Und, was sollte das jetzt?“ fragte Arndt schließlich.
„Nazis“, erwiderte Behar nur.
„Der Ladenbesitzer ist ein Nazi?“
„Ach, das sind doch alle Nazis“, antwortete Behar lapidar und kam langsam in Fahrt. „Diesen ganzen alten Gadjé-Scheißer standen doch jeden Morgen Schlange, um Hitler in den Arsch zu kriechen. Und weißt du was? Die himmeln ihn immer noch an.“
Arndt verkniff sich jeden Einwand dahingehend, dass viel Deutsche ja fürchterlich unter den Nazis gelitten hatten, oder dass viele auf Seiten der Alliierten im Untergrund gekämpft und mit dem Leben dafür bezahlt hatten, selbst hier in Mannheim. Er erwähnte nicht, dass Frauen und Kinder zu jeder Zeit und überall dem Gang der Geschichte und ihren Folgen hilflos ausgeliefert sind.
„Kannst du dir vorstellen, was die meiner Familie angetan haben?“ kam die rein rhetorische Frage von Behar.
„Nein, natürlich nicht“, murmelte Arndt, „allerdings ist mir bekannt, dass es die Zigeuner ebenso traf wie die Juden, Kommunisten, Slawen, Homosexuellen, die Kranken und die geistig Behinderten.“
„Lieber Gott, nach deren Ansicht waren wir alle miteinander krank.“ Auf diese Feststellung folgte eine ungemütliche Stille, während Behar mit den Erinnerungen rang. „Auf der Seite meines Vaters hat niemand überlebt. Da gab es vierzehn Menschen, die ich nie kennen gelernt habe. Mein Urgroßvater wurde 1944 in Auschwitz vergast, und in jener Nacht wurden so viele Sinti umgebracht, dass man bis heute von der Zigeunernacht spricht. Meine Großeltern hat man am helllichten Tag auf einer Landstraße in Österreich aus ihrem Wagen gezerrt und im Graben abgeknallt wie das Vieh.
Mein Onkel Chawula und Tante Marilis wurden mit Dutzenden von anderen Familien über Hunderte von Kilometern zu Fuß durch Ungarn getrieben, und dann sind sie an Typhus in einem verdreckten Lager gestorben, als sie eh schon halb verhungert waren. Mein Onkel Lensar kam in einem Lager bei Lodz um, keiner weiß wie. Mein Onkel Danior ist eines Tages einfach verschwunden, als er Holz sammeln ging, und man hat ihn nie wieder gesehen.
Mein Vater hat nur überlebt, weil er in die Schweiz flüchten konnte, und sich einer Gruppe im Gebirge anschloss, wo er wie ein Flüchtiger oder ein gehetztes Tier lebte, selbst unter den ach-so-duldsamen Schweizern.“
„Behar“, Arndt rang nach Worten, „was soll ich sagen? Dass es schrecklich ist? Unvorstellbar? Unsäglich?“
„Nein, du musst nichts sagen, so wie bis heute meine Mutter nicht darüber spricht, was ihr und ihrer Sippe in jenen Jahren zugestoßen ist. Eine einzige Frau nur habe ich von ihrer Sippe kennen gelernt, die angeblich ihre Tante ist. Völlig zahnlos und kaum eines Wortes mächtig, die arme Frau, so von Trauer verzehrt wegen der Schreckensszenen, die sie gesehen hat, und von denen niemand weiß.“
Wie vor den Kopf gestoßen von der fürchterlichen Familiensaga blieb nun Arndt mitten auf der Straße stehen und starrte mit Unbehagen auf die Gebäude rings umher. Auch Behar blieb stehen und trat neben Arndt. Der eine wie der andere hatte die Lippen fest aufeinander gepresst.
„Es tut mir Leid, mein Freund, wenn ich uns jetzt die Stimmung versaut habe. Du gehörst zwar auch zu den Gadjé, aber du hast das Herz auf dem rechten Fleck. Du sollst einfach wissen, was dein neuer Zechkumpan im Krieg alles angestellt hat.“
„Sag bloß nicht, das wäre mein Kumpan“, knurrte Arndt.
„Du sagtest mal, dein Vater habe gekämpft und wäre fast dabei umgekommen, diesen Irrsinn zu stoppen. Ich bin mir sicher, er hat nicht primär für die Sache der Sinti gekämpft, aber man wird sich an sein Opfer erinnern und seine Erinnerung in Ehren halten.“
„Ja, seine Wunde von damals hat ihm Zeit seines Lebens Schmerzen verursacht.“
„Sein Einsatz war nicht umsonst, mein Freund.“
„So etwas darf nie wieder passieren, Behar.“
„Ach, das war doch nicht das erste Mal, und es wird auch nicht das letzte Mal bleiben. Die Gadjikano verfolgen und jagen uns in Europa schon seit siebenhundert Jahren. Zigeunerpogrome haben auf dem gesamten Kontinent Tradition, seit uralten Zeiten.“
„Aber warum denn nur?“
„Warum? Weil wir dunkle Auge und dunkle Haare haben. Weil wir zusammen halten und das Andenken und die Sitten unserer Vorfahren ehren, anstatt uns den Vorstellungen der Gadjikano anzupassen.“
Schweigend setzten die Beiden ihren Weg fort und stießen bald auf die relativ ruhig daliegende Bismarckstraße. Vor ihnen lag das massive und mehrfach restaurierte Bauwerk des Barockpalastes aus dem achtzehnten Jahrhundert am Ufer, das bei Tag Sitz verschiedener Regierungsbehörden war, nun aber in stoischmitternächtliches Schweigen versunken war. Sie gingen um den historischen Bau herum und gelangten durch eine Fußgängerunterführung in den kilometerlangen Park am Rheinufer jenseits der Bahngleise, wo alles in einsames Schweigen gehüllt dalag.
Behar ging voran über den Rasen des Hochufers zu einer in tiefes Dunkel gehüllten Stelle am Waldrand, ziemlich weit ab der gepflasterten Wege. Es war kaum davon auszugehen, dass ihnen zu dieser Stunde noch jemand dort in den kühlen Wiesen begegnen würde, aber auch Arndt fand, dass man nie vorsichtig genug sein konnte. Behar ging in die Hocke, holte flink ein winziges Metallpfeifchen, ein Taschenmesser und ein stanniolverpacktes Bröckchen hervor. Im Nu hatte er ein paar ordentliche Scheibchen von dem landesüblichen braun-grün-gelblichen Haschklumpen in die Pfeife gesäbelt und einen windabweisenden Deckel darüber verschraubt. Über eine winzige Öffnung im Deckel ließ sich die Flamme in den Pfeifenkopf ziehen, wo sich der Rauch sammelte, bis er über den Stiel in die Lungen des Rauchers gesogen wurde.
„Okay, mein Freund“, setzte Behar feierlich an, „lass uns die Anfechtungen der Vergangenheit für den Augenblick begraben und uns einer vielversprechenden Zukunft zuwenden. In einer Woche werde ich blutbeflecktes Brot essen“.
„Wie bitte?“ entfuhr es Arndt, weil ihm sofort Morrells obszöne Anekdote in der Messe wieder einfiel. Die Erinnerung daran wollte sich nicht so recht mit dem anstehenden Rausch vertragen.
„Soll heißen, in einer Woche findet meine Hochzeit statt. Nach altem Sinto-Brauch lassen Braut und Bräutigam von ihrem Blut auf ein Stück Brot tropfen, tauschen die Brotstücke aus und essen sie auf.“
„Ah, verstehe“, gab Arndt erleichtert zurück. „Also, dann meine allerbesten Glückwünsche. Ich wünsche euch ein langes Leben, viel Freude und genau so viele Kinder, wie nötig sind für einen unbeschwerten Lebensabend.“
„Ich danke dir, mein Freund“, sagte Behar und nickte mit dem Kopf, reichte ihm die Pfeife und bedeutete Arndt, mit dem Ritus zu beginnen. Arndt folgte der Aufforderung nur zu gern, genoss den Geschmack und das Aroma von reinem Haschisch, und übte augenblicklich seinen entspannenden Zauber auf Hirn und Glieder aus. Auch als die Pfeife zu Ende geraucht war, blieben die beiden Männer noch eine Weile auf ihren Fersen, ließen ihren Blick über das Wasser in der Ferne gehen und ihre Gedanken schweifen.
Es irritierte Arndt, dass in seinem Kopf Assoziationen von Blut und Sex miteinander verschwammen. Sein Bewusstsein war geplagt von Gedanken an die Trauzeremonie von Behars Zigeunerhochzeit und die Fastausrottung der ganzen Sippe im Krieg, an Morrells geschmacklose Erinnerung beim Mittagsessen und die Spuren am kindlichen Hals des vergewaltigten Häftlings Niemeyer, und schließlich an ein eigenes Erlebnis aus jüngster Zeit, in dessen Erinnerung sich Bedauern und Ekel mit einer ungeahnt machtvollen Zufriedenheit vermischten. Das Leben in der realen Welt schien ihm ein heikles, schmutziges, gefährliches, schmerzhaftes, blutiges und doch so unglaublich kostbares Ding.
„Ich sollte mich langsam auf dem Heimweg machen“, sagte Behar auf einmal, und kam ächzend wieder auf die Beine, die ihm den Dienst zu versagen drohten. Arndt machte ungewollt jede seiner Bewegungen nach, als auch er sich erhob. „Wir sehen uns ganz bald“, fuhr der Sinto fort. „Dass ich heirate muss ja nicht heißen, dass ich mich hinterm Mond verkrieche.“
„Das will ich nicht hoffen“, sagte Arndt lachend. „Danke für das Pfeifchen, und dir wünsche ich eine tolle Hochzeit, falls wir uns vorher nicht mehr sehen sollten.“
„Ich danke dir, mein Freund“, sagte Behar ruhig. Er drehte sich um und weg war er. Noch völlig steif vom langen Hocken humpelte Arndt einen sanften Abhang hinab zum Fluss und lehnte schließlich gegen ein eisernes Geländer am Ufer. Das hypnotisierende, platschende Gurgeln der schnellen Strömung machte sich blendend im Zusammenspiel mit den Weiten, die das Hasch in seinem Schädel eröffnet hatten. Deutlich kam der Laut eines Schiffsmotors übers Wasser, obwohl auf der wirbelnden Wasseroberfläche keine Lichter oder sonstige Anzeichen für Schiffsverkehr zu sehen waren. Der Stadtkern von Ludwigshafen leuchtete etwa fünfhundert Meter flussaufwärts, und das metallisch pfeifende Rauschen des Verkehrs von Autos und Lastwagen auf der mächtigen Rheinbrücke, die die beiden Städte miteinander verband, drang an Arndts übersensibilisiertes Ohr, als käme es direkt vom Himmel.
Jedes Mal wenn Arndt bisher an diese Stelle gekommen war, hatte er in Gedanken die stolzen, erhebenden Klänge von Siegfrieds Rheinfahrt aus der Götterdämmerung vernommen. Doch die erdrückende Last der Naziverbrechen, die ihm an jenem Abend ins Gedächtnis gerufen worden waren, lag schwer auf seinem Gewissen und ließ Wagner barbarisch und taktlos wirken. Eine Weile lang durchsuchte er fieberhaft seine Hirnwindungen nach einer angemesseneren Stimmung, um seine Sinne dort am Rheinufer zu entspannen.
Doch das Gemüt ist gewitzt, und Wagner ließ sich nicht so einfach von der Hand weisen. Bilder von Anna, Gretchen und Liesel beim Tanz in der Disko kamen Arndt ungewollt wieder in den Sinn, und diese stellten dann den Übergang zum ersten Akt von Rheingold dar und zum höhnischen Lachen der Rheintöchter, die den unglücklichen Alberich quälten und seine glücklose Liebe verspotteten. Der missgestaltete Zwerg hatte daraufhin die Liebe auf ewig verflucht, das verwunschene Gold der Rheintöchter gestohlen, daraus einen Ring von ungeheurer Macht geschmiedet, ihn verflucht und so den Gang der Ereignisse ins Rollen gebracht, der letztlich für die Götter selbst zum Untergang in den Trümmern des brennenden Wallhall führte.
Der Gedanke an Hitler war nahe liegend, und auch der Vergleich mit Herman Cortez lag Arndts grübelndem Gehirn nicht fern. Cortez war ein giftiger und lästiger Fehltritt der Natur, wenn es so was gab in einem arglos schöpferischen Kosmos. Er war dabei, sein eigenes Leben durch krasse Fehlentscheidungen zu ruinieren und selbst in der Vorhölle noch das Leben Anderer zu ruinieren, während er seiner verdienten Strafe harrte.
Und was hatte der arme Ricky Niemeyer angestellt, um sein einsames Schicksal an diesem Abend heraufzubeschwören? Er war ein Vektor alles Kranken, kein Zweifel, eine mögliche Quelle von Gewaltausbrüchen in den offenen Stationen, wo er seinem unerlaubten Geschäft für Zigaretten, Drogen, eingeschmuggelten Alkohol oder vielleicht gar für die einzige Form von Liebe, die er kannte, nachging. Es war sicher gerechtfertigt, dass die Vorschriften verlangten, ihn zum Wohle aller in Einzelgewahrsam zu nehmen. Aber wo in dieser Regelung lag das Wohl Niemeyers?
Der gurgelnde und schmatzende Fluss rollte trübe an ihm vorbei und lockte ihn mit immenser, ungezähmter, absichtsloser und überirdischer Gewalt. Arndt kam sich selbst ein bisschen wie Alberich vor, wenn auch nicht in Hinblick auf die hässliche, widerwärtige, sadistische Komponente natürlich. Nein, aber er konnte nachvollziehen, wieso Alberich die Liebe verflucht hatte. In seinem Fall hatten die Beatles sogar Recht mit ihrer Liedzeile You’ve got to hide your love away, denn Arndt verstand es nicht, seine Liebe zurückzuhalten, zeigte stattdessen seine Form von Agape jedem Lebewesen, das ihm über den Weg lief, Tag für Tag, Stunde um Stunde, ohne dass es je genug war.
Cindy Wetmore war keinesfalls sein einziges sexuelles Abenteuer in der Oberschule gewesen. Immerhin war er ja ein Football-Star, sah nicht übel aus, galt als attraktiv. Aber all die Jahre hatte er nie den Mut aufgebracht, die eine Person anzusprechen, von der er nachts träumte, die einzige, die er je wirklich geliebt hatte.
Arndt war fast neidisch auf Behar Kowatschi wegen seiner jungfräulichen Braut und der von den Eltern ausgehandelten Ehe im Alter von siebzehn Jahren. Er wünschte ihnen von ganzem Herzen ein langes Leben in Zufriedenheit, Frieden, Sicherheit, Glück und Liebe. Er bat Gott, ihm zu helfen, die dunkle Furcht zu überwinden, die sein eigenes Leben unweigerlich zu einem sinnlosen Forschen in den Herzen anderer Menschen zwang. Letztlich bat er Gott, einen gnädigen Heiland in Beems Zelle zu schicken, damit der Verstand und der Geist dieses Menschen wiederhergestellt werde, und allen somit gedient sei.
Zu beiden Seiten des Waldwegs erstreckte sich Nadelwald, so weit das Auge reichte, eine Reihe Fichten nach der anderen in einförmigem Nadelbett und ohne eine Spur von Unterholz. Nur der wechselhaft wehende Wind sorgte für kleine optische Unterschiede unter den Bäumen, wenn sie sich vor und zurück beugten und ihre Wipfel sachte zittern ließen. Vor ihm huschte ein Kaninchen über den Weg, sein weißer Schwanz wie ein Irrlicht in der forstwirtschaftlichen Architektur aus Grün- und Brauntönen.
Ohne Übergang wechselte die Landschaft von Wald zu sanft hügeligen oder brachliegenden Feldern. Arndt lenkte seine Schritte in Richtung einer flachen Hügelkette von Weinbergen, die etwa sechzehn Kilometer im Osten lagen. Abgesehen von einer Bauersfrau, die auf einem weiter weg gelegenen Feldweg parallel zu ihm nach Westen ging – von Zeit zu Zeit fuhr der Wind in ihren langen blauen Rock und bauschte ihn vor ihr auf – begegnete ihm keine Menschenseele. Obwohl es am Vortag geregnet hatte, stoben kleine Staubwirbel über die Felder, wenn der Wind über Land ging.
Stark rhythmische Echos von Strawinskys Symphonie in C-Dur gingen Arndt durch den Kopf, während er mit festem Schritt dem lila Kamm in der Ferne zustrebte. Rings um ihn lag weit und breit nur geschichtsträchtiges Land, das seit einer halben Million Jahren die Scherben des Homo erectus friedlich nebeneinander in seinem Boden barg, während römische Festungen auf der Hochebene vor ihm lagen, mittelalterliches Rittertum am sagenumwobenen Rhein hinter ihm. Der Wormser Dom leicht nordwestlich hinter ihm gemahnte gar an Martin Luther.
Ach, und dann doch wieder die beißende Rauchschleppe des finsteren nationalsozialistischen Erbes! Ganz gleich, wie viel große Humanisten, Forscher, Dichter, Komponisten oder Theologen einen bleibenden Einfluss auf dieses Tal gehabt haben mochten, die Welt sah nur das kristallnächtliche Bersten von Glas und hörte nichts als das Wehklagen der Unterdrückten, sah die brennenden Synagogen und die Viehwaggons dicht gepackt mit ihrer Menschenfracht, roch lediglich Zyklon B und Leichenberge. Selbst das Hakenkreuz, ein fünftausend Jahre altes Glückssymbol überall auf der Welt, hatte sich in der allgemeinen Wahrnehmung zur Menetekel des Völkermords verzerrt.
An den armseligen ehemaligen Wehrmachtssoldaten unter den grellen Lichtern der Disko erinnert schreckte Arndt davor zurück, den Stab über diesem grotesken Haupt zu brechen. Welches Maß an kollektiver Schuld trug schon der einfache Soldat, der dem heimischen Herd und dem Vaterland diente, oder der einfache Bauer, der die Heere ernährte, oder der Musiker, der die Melodien ersann, um den Menschen den Kopf zu verdrehen? Welche einzelne Hand konnte sich allein dem gefühllosen Koloss der Geschichte in den Weg stellen?
Fest stand für ihn nur, dass die eigene Familie schon oft genug zwischen diese gesichtslosen Räder gekommen war. Sein Vater, den Wilsons Krieg zum Waisen gemacht hatte und Roosevelts Krieg zum Krüppel, schien der lebende Beweis für die majestätisch unbekümmerten, fatalen Folgen von Krieg. Der enorme, verformte Krater an der Seite seines Schädels, die nuschelnden, unregelmäßigen Worte, die spastischen Armbewegungen und der O-beinige, tapsige Gang, der die Leute auf der Straße verschreckte, dass alles war Teil seiner täglichen Last.
Trotzdem war das denkende Hirn in seiner ramponierten Kalkschale im wesentlichen intakt geblieben. Edmond Bergson zitierte passagenweise Shakespeare aus dem Gedächtnis, schwärmte für die Herrlichkeit der Natur und gab seine Vorliebe für die Kammermusik von Brahms durch sein ekstatisches Beispiel an seinen Sohn weiter. Er verdiente einen ansehnlichen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Lebens- und Krankenversicherungen, wobei er im Verlauf des Verkaufsgesprächs seine eigene bescheidene Person in den Vordergrund spielte und so den rohen Mutwillen des Schicksals höchst wirkungsvoll zu inszenieren wusste.
Arndt war ausgesprochen stolz auf den Mut und die Willenstärke seines Vaters. Nichts bereitete ihm größeres Vergnügen als die Erinnerung an den ganz offenkundigen Stolz seines Vaters während seiner Ernennung zum Eagle Scout bei den Pfadfindern, oder an seine schräg quäkenden Anfeuerungsrufe vom Rande des Football-Felds. Hätten ihm diese Ermunterungen weniger bedeutet, wenn er ein fußballspielender deutscher Junge gewesen wäre, dessen Vater zerschunden aus Stalingrad heimgekehrt war?
Arndts Stolz auf seinen Vater erstreckte sich natürlich auf eine ganze Generation von Männern und Frauen, die gelitten und gekämpft hatten – und viele von ihnen waren um die halbe Welt gereist, nur um in mörderischer Brandung den Tod zu finden oder in einem schlammigen Schützenloch oder hilflos an verfangenen Leinen des eigenen Fallschirms baumelnd –, um die Pläne des Tennos oder des Führers zu durchkreuzen. Nichtsdestoweniger fragte er sich, ob die Wahrheiten dieses Krieges seinerzeit für alle Kriegsteilnehmer ebenso eindeutig auf der Hand lagen, wie sie den offiziellen Nachkriegshistorikern erschienen waren. Selbst Churchills strahlende Wahrheit war flankiert von einer Leibwache von Lügen.
General Patton, der damalige Kommandeur seines Vaters, der bei einem Autounfall gleich hier in der Nähe, in Seckenheim, umgekommen war, hatte die übereifrigen Entnazifizierungsmaßnahmen scharf kritisiert und die Meinung vertreten, dass wohl die meisten Deutschen zu Nazis geworden waren, so wie Amerikaner Republikaner oder Demokraten wurden. Daraufhin hatte ihn General Eisenhower seines Postens als Befehlshaber der Dritten Armee enthoben und ihm strikte Anweisung gegeben, in Zukunft seinen Mund zu halten. Propaganda zu Kriegszeiten – egal ob es um heißen oder kalten Krieg ging – hatte stets einen gewissen Aspekt, der Arndt zutiefst irritierte.
Aber was wusste er schon vom Krieg?
Nachdem Arndt die Nord-Süd-Trasse der Autobahn unterquert, die mittelalterlichen Gassen von Weinheim an der Bergstraße durchstreift hatte und den Weg zu den nahe gelegenen Erhebungen oberhalb der Stadt eingeschlagen hatte, wurde ihm bewusst, dass es das Herumstromern, das Wandern selbst und die Erinnerungen an die Pfadfinderzeit waren, die seine Gedanken so aufwühlten. Es hatte nichts mit dem steilen Anstieg zu tun, denn er hatte in Wisconsin schon ganz andere Berge erklommen, und das mit fünfzig Pfund auf dem Rücken. Und er hatte schon an gut hundert Fahnenweihen und Ehrenwachen teilgenommen und feierliche Eide geschworen, Gelübde abgelegt.
Etwas an Vietnam wollte und wollte ihm keine Ruhe lassen, das sich mit seinem Pfadfindergelöbnis in Bezug auf die Pflicht gegenüber Gott und Vaterland biss. Es war ja nicht wirklich der Militärdienst im eigentlichen Sinne dort gewesen, er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, dessen er sich jetzt hätte schämen müssen. Er hatte jedermann mit gehörigem Respekt behandelt, nie jemanden verletzt, es sei denn, es ging um eindeutige Verstöße gegen die Vorschriften oder tätliche Angriffe von Seiten der Straftäter. Er hatte nie an irgend einer Aktion teilgenommen, die auch nur entfernt an einen Kampfeinsatz erinnert hätte, geschweige denn sich an irgendwelchen Kriegsverbrechen beteiligt.
Und doch beschämte es ihn zutiefst, wie der Präsident salbungsvoll im Fernsehen vom „ehrbaren Frieden“ sprach, nachdem die Nordvietnamesen Anfang des Jahres endlich einem amerikanischen Truppenabzug aus dem Land „zugestimmt“ hatten. Im Verlauf von gut zwei Dutzend Jahren waren bestimmt fünf Millionen Menschen in Kambodscha, Vietnam und Laos in einer Hölle auf Erden umgekommen, die von den USA finanziert, geduldet und letztlich selbst veranstaltet worden war. Selbst Präsident Eisenhower hatte zugegeben, dass Ho Chi Minh die von der UNO angesetzten freien Wahlen des Jahres 1954 vermutlich mit einem erdrutschartigen Sieg gewonnen hätte, doch das von den USA gestützte korrupte Regime im Süden hatte einen allgemeinen Urnengang abgelehnt.
Wo war denn da die Ehre?
Selbst als neunjähriger Junge hatte Arndt gemerkt, dass irgendetwas mit Richard Nixon nicht stimmte. Der berüchtigte „Fünf-Uhr-nachmittags-Schatten“ Nixons, der zum erstenmal in den Fernsehdebatten mit Kennedy zu sehen gewesen war, machte nur die Spitze des Eisbergs aus, die den wahren Charakter dieses nervös zuckenden, verschlagen dreinblickenden Mannes verriet. Mittlerweile hing die ganze Präsidentschaft Nixons an einem seidenen Faden, während er auf peinliche Art sein Mitwissen an den gescheiterten, amateurhaften Einbruchsversuchen leugnete, und während Vizepräsident Agnew gerade in Schande zurückgetreten war, weil er den Vorwurf der gemeinen Erpressung weder bestätigen noch dementieren wollte. Arndt fragte sich, wie viele Insassen von Long Binh oder Mannheim sich den Knast mit einem Nolo contendere-Plädoyer dieser Art hätten ersparen können.
Dr. Kissinger, angebliches Universalgenie der Realpolitik, kam Arndt schlicht und ergreifend wie eine reaktionäre Unke, wie ein Kriegsverbrecher vor. Offenbar stand Kissingers jüngstes Einfädeln des Sturzes und der Ermordung Salvador Allendes – Chiles verfassungsgemäß gewähltem Präsidenten, dessen unsägliche Verbrechen darin bestanden, dass er die morgendliche Ausgabe von einem halben Liter Milch an alle Schulkinder angeordnet hatte – in direktem Bezug zu seiner Ernennung zum Außenminister. Die verheerenden Bombenteppiche, die auch in seinem Namen jahrelang auf das angeblich neutralen Kambodschas niedergegangen und erst im vergangenen August beendet worden waren, vertrugen sich ja ganz prächtig mit dem Friedensnobelpreis, den man Kissinger soeben verliehen hatte.
„Ein Politiker ist jemand“, wie Edmund Bergson gern aus Hamlet zitierte, „der selbst Gott noch hinters Licht führen würde.“ Der Pfad, der sich in Serpentinen diesen bewaldeten Berghang in der Mitte Westdeutschlands zu einem Aussichtspunkt empor wand, pulsierte geradezu vor Erinnerungen an fehlbeschlagene Versuche, die Geschichte zu den eigenen Gunsten zu beugen. Während Deutschland ganz offensichtlich hart zu Boden gestürzt war auf seinem Gang durch die Zeit, gelang es den Vereinigten Staaten anscheinend nach wie vor, sich durchzuschlängeln.
Der Pfad endete abrupt, und Arndt stand plötzlich auf dem Gipfel, nahm sich zwergenhaft neben den massiven Trümmerbergen des ehemaligen Schlosses Windeck aus, einem Märchenschloss aus dem zwölften Jahrhundert, mit Zinnen und Türmen. Es war im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden, und die immer noch vier Stockwerke hohen Mauerreste, hinter denen sich inzwischen uralte Baumriesen im Schlosshof erhoben, schauten nun schon über dreihundert Jahre sinnend über das breite Rheintal weit unten. Der Bergfried, der auch mit zerschossener Turmspitze noch gut und gern drei mal so hoch wie die umliegenden Mauern war, zeigte einsam nach oben wie eine durch Rohrkrepierer außer Gefecht gesetzte Kanone nach verlorener Schlacht gegen irgendwelche himmlischen Heerscharen.
So sehr er die Neuerungen seiner Nation in politischer Theorie bewunderte, verabscheute Arndt die mutwillig ahnungslose Arroganz, mit der das Land oft ins Antlitz der Geschichte spuckte. Deutschland war über Jahrhunderte der wehrlose Spielball von Armeen aus aller Herren Länder gewesen, lange bevor Amerika überhaupt seinen ersten Atemzug als Nation getan hatte. Selbst die Schweden, so bekannt und geachtet als friedliebendes Volk, hatten noch vor wenigen Jahrhunderten geholfen, dieses Land zu verwüsten. Trotzdem befanden es viele Amerikaner – denen die Napalmangriffe auf unschuldige neutrale Völker in fernen Ländern schon völlig aus dem Sinn gekommen waren – für nötig, Deutschland in Bezug auf den Zweck und die Methodik von Kriegsführung zu belehren.
Arndt wusste, dass amerikanische Soldaten in Vietnam – abgesehen von der My Lai-Affäre und Gerüchten einer so genannten Tiger Force, die Dörfer in der zentralen Hochebene säuberten – in Vietnam nie als völkermordende Todesschwadrone aufgetreten waren. Allerdings hatte auch der Großteil der Truppen Hitlers nicht aus Ungeheuern bestanden. Die meisten Kriegteilnehmer auf allen Seiten und zu allen Zeiten waren schlicht Patrioten, die den Befehlen ihrer Anführer folgten.
Eine Generation nach dem Ende von Hitler diente Deutschland – geschlagen und geteilt – immer noch als Aufmarschgebiet für seine ehemaligen, inzwischen untereinander verfeindeten Gegner. Russland und Amerika testeten immer stärkere Atomwaffen und lieferten sich einen Wettlauf ins All, wobei sie sich fortwährend gegenseitige Verleumdungen an den Kopf warfen. Zur gleichen Zeit verhungerten die Menschen in Zentralafrika zu Hunderttausenden aufgrund von Dürre. Die vielen Millionen, die weltweit alljährlich verhungerten, wurden als ganz normale Härte verbucht.
Während er von Schloss Windeck nach Westen über das flache Land des Rheintals hinweg zu den fernen Kammlagen der Pfalz blickte, bildete sich Arndt ein, die Ostbewegung der Erde unter seinen Füßen zu spüren. Mit etwa eintausendfünfzig Stundenkilometern an diesem Breitengrad gemahnte die Drehung um die Erdachse an die mittlerweile Milliarden von Jahren dauernde Reise des Planeten durchs All: mit einunddreißig Kilometern pro Sekunde um die Sonne, mit zweihundertzwanzig Kilometern pro Sekunde um den Kern der Galaxie in einer Umkreisung, die zweihundertdreißig Milliarden Jahre in Anspruch nahm. Welchem Kurs die Galaxie selbst folgte, und mit welcher Geschwindigkeit, war und blieb Teil des Großen Mysteriums.
Arndt konnte sich erinnern, wie er eines faulen Nachmittags im Abschlussjahr der Oberschule neben Denny Hutchinson im Aufenthaltsraum gesessen hatte. Mit seiner dicken runden Schostakowitsch-Brille und seinem selbstvergessenen Auftreten war Hutchinson der renommierteste Streber an der ganzen Schule und wurde bereits als künftiger Kandidat für eine Karriere im diplomatischen Dienst – selbstredend mit ein, zwei Studienabschlüssen in Harvard – gehandelt. Nachdem ihm aufgefallen war, dass der Junge abwechselnd genickt oder den Kopf geschüttelt hatte über den Inhalt der Seite vor ihm, fragte ihn Arndt nach dem Titel des dicken Wälzers, den er da aufgeschlagen hatte.
„Tja, um ehrlich zu sein, Band 21 von Lenins Gesammelten Werken“, kam die heitere Antwort von Hutchinson, der offenbar erleichtert war, unterbrochen worden zu sein. „Sicher schon mal gehört, den Namen?“
„Na logo, dieser russische Typ, der wie der Teufel aussieht, nicht wahr?“ antwortete Arndt mit ironischem Unterton.
„Richtig. Der Vater der russischen Revolution“, erwiderte Hutchinson trocken, der offenbar den Witz dieses minder begabten Wesens an seiner Seite nicht kapierte, wie das so ist mit Genies. „Glaubst du im Ernst, dass so der Teufel aussieht? Oder könnte es auch sein, dass alle dir bisher untergekommenen Abbildungen von Satan sich bewusst an Lenins Zügen orientierten?“
Arndt lachte. „Gute Frage.“ Der Gedanke war ihm noch nie gekommen. „Du wirst uns doch hier nicht unter die Roten gehen, oder was?“
„Oh, das wage ich zu bezweifeln. Es geht, glaube ich, lediglich darum, den alten Ratschlag ‘Kenne deinen Feind’ zu beherzigen. Aber ich habe das Gefühl, ich habe soeben einen der Gründe entdeckt, warum Joe McCarthy sich halb verrückt gemacht hat, dieses Gedankengut dem Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit vorzuenthalten.“ Er reichte das Buch weiter an Arndt und deutete auf eine Stelle auf den aufgeschlagenen Seiten, dann forderte er ihn auf: „Jetzt schau dir mal diesen Satz an, den er 1915 geschrieben hat.“
Die Vereinigten Staaten der Welt (nicht aber Europas) sind jene staatliche Form der Vereinigung und der Freiheit der Nationen, die wir mit dem Sozialismus verknüpfen - solange nicht der vollständige Sieg des Kommunismus zum endgültigen Verschwinden eines jeden, darunter auch des demokratischen, Staates geführt haben wird.Was unter dem „endgültigen Verschwinden eines jeden Staates“ zu verstehen war, entzog sich Arndts Vorstellungskraft. Aber der Sinn der restlichen Worte lag geradezu schmerzlich auf der Hand.
„Die Vereinigten Staaten der Welt, wie?“ meinte er vorsichtig, wobei er seinerseits nun abwechselnd den Kopf vor Bestürzung schüttelte und nickte.
„Genau“, kam blitzschnell die Antwort von Hutchinson, dessen ironischer Gesichtsausdruck verriet, dass er sich köstlich amüsierte. „Was für ein genialer Propagandatrick: Der Generalplan für eine weltumspannende Sklavendiktatur, direkt aus dem Mund seines Erfinders!“ Dann brach er in ein trockenes Lachen aus, eine Art hohles Glucksen, dass sich nach und nach in so etwas wie einem Klagelaut verlor.
Von den Trümmern der windgepeitschten mittelalterlichen Zinnen, stieg Arndt ins alte Weinheim ab, erwischte fast sofort einen Schnellzug Richtung Süden und stand schon eine Viertelstunde später auf dem Bahnsteig des Heidelberger Hauptbahnhofs.
Ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge, der eine abgetragene Bundeswehrjacke und eine sehr dunkle Plastiksonnenbrille trug, stand unsicher gegen die Wand gelehnt vor dem Eingang des Imbiss zwischen den Türen zu den Bahnhofstoiletten. Der blonde Junge mit den rosigen Wangen erinnerte Arndt an irgend jemand, bis ihm einfiel, dass ihn Sonnenbrille, Körperbau und Haltung wie Ricky Niemeyer aussehen ließen, der inzwischen kurz davor war, einen Stubenkoller wegen seiner nunmehr eingeschränkten Privatsphäre zu bekommen. Als der Soldat an ihm vorbei ging, bedachte der Junge ihn mit einem Blick über die Ränder der Sonnenbrille, der ihn ganz klar suchte und ihm folgte.
Arndt kaufte eine Bratwust mit Brötchen und reihte sich in die Traube der übrigen Gäste ein, die an diesem frühen Nachmittag ihre Mahlzeiten dort am Tresen des Imbiss einnahmen. Er bemerkte, dass der Junge ihn neben einigen wenigen anderen Kandidaten genau im Auge behielt. Auch wenn er sich ihm nie anvertraut hätte oder sich auch nur von ihm hätte ansprechen lassen, rührte ihn die nicht zu leugnende Wärme, die in der offenen Bewunderung eines anderen menschlichen Wesens lag.
Plötzlich war es Arndt, als hätten sich die Klauen eines erstaunlich großen Raubvogels in seinen linken Unterarm gekrallt. Als er mit kalkulierter Gelassenheit seinen Blick wandte, fand er sich einem kleineren Asiaten zwischen sechzig und siebzig gegenüber, der eine große wattierte Jacke trug und eine Art griechischer Fischermütze auf seinem grauen Schopf. Arndts erster Gedanke war, dass es sich vielleicht um einen japanischen Diplomaten handelte, der hier nach dem Zusammenbruch der Achsenmächte gestrandet war, doch das kam ihm dann doch ein bisschen weit her geholt vor.
„Was für ein stattlicher junger Mann!“ bemerkte der alte Herr in ausgezeichnetem, wenn auch näselnden Deutsch. Er lockerte seinen Griff um Arndts Arm nicht, so als würde er sonst umfallen, und es schien, als lächele er Arndt an, doch man konnte sich nicht sicher sein. „Sind Sie Student?“
Der Gegenstand offener Bewunderung zu sein war eine Sache, aber diese Situation grenzte an eine Szene aus dem Irrenhaus. „Nein“, erwiderte Arndt mit unverhohlener Verärgerung. „Ich bin Soldat, genau genommen sogar Polizist.“ Diesmal entschied er sich dafür, den Begriff Polizist zu verwenden und nicht das doch etwas zu fachsimpelnde Wort Feldjäger. Wie es ein glücklicher Zufall wollte, konnte er aus dem Augenwinkel just in diesem Moment einen deutschen Polizisten den Imbissstand betreten sehen. Nicht ohne eine Spur von Triumph in der Stimme, deutete er auf den Streife gehenden Beamten und sagte: „Und hier haben wir einen von meinen Kollegen.“
Als Arndt seinen Kopf wieder dem alten Mann zuwandte, um seine Reaktion zu beobachten, merkte er, dass der verschrumpelte Gnom sich in Luft aufgelöst hatte. Er war in der Menge verschwunden, als ob er nie da gewesen wäre. Arndt lachte grimmig, dann bemerkte er, dass auch der Junge bei den Toiletten innerhalb von Sekunden verschwunden war. Er beendete seine Mahlzeit und verließ den Imbiss, wobei er immer noch den Kopf schütteln musste über dieses absurde, erbärmliche Schauspiel. Er trat aus dem Bahnhof und setzte seinen Weg zum 130. Station Hospital fort.
Nachdem er es sich in einer Straßenbahn auf der Rohrbacherstraße bequem gemacht hatte, richtete Arndt sein Augenmerk auf die Gaisberghöhen unmittelbar zu seiner Linken. Obwohl sie in kahl und braun in der kalten Novembersonne da lagen, lockte ihn der dicht bewaldete Berghang unter dem blauen Nachmittagshimmel nach wie vor. Bei seinem Anblick kam ihm wieder die letzte Zusammenkunft mit Jimmy Wilson in den Sinn, wie auch die bedauerlichen Umstände ihres Abschieds.
Sie hatten sich in der Messe des Krankenhauses am ersten Tag von Arndts vorübergehendem Dienst auf der psychiatrischen Station kennen gelernt und sich auf Anhieb prima verstanden. Obergefreiter Jimmy Wilson aus Nashville, neunzehn Jahre alt und Krankenpfleger, hatte sich entweder Altmans Film M*A*S*H zu Herzen genommen oder die Vorgaben für die herumblödelnden Ärzte des Drehbuchs geliefert. Er rasierte sich nur sporadisch, kriegte es hin, stets verknautscht und ungepflegt auszusehen, egal wie sauber seine Uniform oder sein dickes braunes Haar gekämmt war.
Arndt verbrachte seine Vormittage in Heidelberg abgeschieden in einem leeren Büro, wo er psychologische Lehrbücher und Army-Handbücher paukte. Nachmittags schritt er im Gefolge von Sozialarbeitern/Psychiatern über die einzelnen Stationen und ging im Gefolge des Psychiaters im Rang eines Obersts auf Visite. An manchen Tagen waren die einzigen Patienten, die sie aufsuchten, die klinisch depressiven Ehefrauen von Stabsoffizieren. Das zweite Mal, dass eine jener hilflos schluchzenden, zittrigen Frau in den Wechseljahren aufgebahrt und in Zwangsjacke auf die Station gerollt wurde, kam Arndt zu dem Schluss, dass eine Klinge im Rücken am Militärgefängnis vielleicht doch nicht das Größte aller Übel war.
Jimmy Wilson kam mehr und mehr die Rolle eines Gegenmittels für die bedrückende Situation auf der psychiatrischen Station zu. Seine Reden beim Essen, nahmen die Krankenhausverwaltung ebenso aufs Korn wie das USAREUR-Kommando, das Pentagon, den Generalstab und sogar den Präsidenten, und das auf unzweideutige Art. Jimmy war noch nie ein Republikaner untergekommen, vor dem ihm nicht gegraut hätte, dabei war das Einzige, was er an Demokraten mochte, der Umstand, dass sie keine Republikaner waren.
Arndt gewöhnte sich an, Jimmy abends in der Unterkunft aufzusuchen, mit ihm Schach zu spielen oder über den armseligen Zustand der Army, der Nation oder der ganzen Welt zu lästern. Was Jimmy an historischem Wissen abging, wusste er mit einer erstaunlichen Auffassungsgabe für aktuelle Ereignisse wettzumachen. Beispielsweise waren ihm bei weitem mehr Details über die Regierung Allende bekannt als Arndt, und er hatte sogar den Militärputsch zwei Wochen, bevor es tatsächlich dazu kam, vorhergesagt.
Eines Samstagnachmittags schleppte Arndt den jungen Mann aus Tennessee, der so gut wie keine Ahnung von klassischer Musik hatte, in den USO-Club und spielte ihm Beethovens erstes Rasumowsky-Quartett und Mahlers Sechste Symphonie über Kopfhörer vor. Er war sich sicher, der Pfleger würde Mahler mögen, und Arndt wurde in dieser Hinsicht auch nicht enttäuscht. Aber es war erst später, als Jimmy wieder raus an die Sonne kam und das übermütige und weitschweifende Grundthema von Beethovens Allegretto pfiff – und das, obwohl er sich nach seinem kurzen ersten Eindruck von Beethoven eine ganze Stunde lang Mahler angehört hatte –, dass Arndt bei sich dachte, „Mann, das wird eine richtig tolle Freundschaft.“
Das einzige, zu was sich Jimmy nie von Arndt bewegen ließ, war, mal abends weg zu gehen und in der Stadt einen draufzumachen. Einen Joint zu rauschen oder sich im NCO-Club die Hucke voll zu saufen, war alles kein Thema, aber keine zehn Pferde hätten ihn dazu gebracht, das Militärgelände zu verlassen. Seine Ausrede war, dass er mehr als genug von den Deutschen und ihren volkstümelnden Touristenattraktionen hatte. Arndt war überzeugt, dass es an der Sprachbarriere lag, und dass sie sicher zusammen in der Altstadt eine Riesengaudi haben würden, wenn Jimmy es nur mal auf einen Versuch ankommen ließe. Irgendwann gab Jimmy nach, er versprach, sich auf dieses Experiment einzulassen, und zwar am Freitagabend nach Arndts letzter Schicht am Krankenhaus.
Die Sache lief dann nicht ganz so reibungslos ab, wie Arndt sich das gedacht hatte. Sie zogen durch die Altstadt, mit Abstechern in ein halbes Dutzend Studentenkneipen und Tanzlokale an der Unteren Straße, aber Jimmy war eindeutig wegen irgendetwas bedrückt, und was immer der Grund war, er wollte nicht darüber reden. Es endete damit, dass er sich wie ein betrunkener Rowdy aufzuführen begann und sogar eine Kellnerin anmachte, ob sie nicht gleich jetzt ihren Job hinschmeißen und mit ihm die liebe lange Nacht lang vögeln wolle.
Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatten Geschäftführer und Personal – Sprachproblem hin oder her – Arndt und Jimmy ohne große Umstände vor die Tür gesetzt. Arndt war die Sache peinlich, aber er folgte der torkelnden Gestalt vor ihm, bis sie zu einem alten Hotel kamen, dem Roten Hahn, das an einer der südlichsten Straßen der Altstadt lag. Der Name hatte was, dachte Arndt, nahm ein Doppelzimmer und half Jimmy die Treppe rauf und ins Bett.
Arndt hatte sich schon bis auf die Unterhosen entkleidet und war dabei, Jimmy aus seinen eigenen Klamotten zu helfen, als es passierte. Irgendwas dergleichen gehörte zwar immer dazu, Arndt hatte sich schon darauf eingestellt, es dem jüngeren Freund schnell französisch zu besorgen und dann im eigenen Bett zu pennen. Aber dann machte sich Jimmy plötzlich über ihn her, verpasste ihm leidenschaftliche Küsse und Bisse, ließ seine Hände über Arndts Körper fahren und drückte ihn aufs Bett runter.
Er hatte zwar nicht damit gerechnet, aber auch absolut nichts einzuwenden, und er vergalt Gleiches mit Gleichem nach all den langen Jahren in der Army ohne Hoffnung auf Antwort, auf Erwiderung von Gefühl. Im Nu waren beide splitternackt, und Arndt lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken, während Jimmy sich mit einem strammen Ständer in der Unterwelt zu schaffen machte.
Analverkehr konnte eine unsaubere, miefige Angelegenheit sein, war fast immer unangenehm, wenn nicht gar schmerzhaft. Arndt war es eigentlich lieber, sanft, kontrolliert und ausgiebig miteinander zu kuscheln und sich lange zu lecken, wieder und wieder. Doch der Sturm der Leidenschaft hatte seine Gefühle für Jimmy entfesselt und verlangte nach nichts anderem: Es fühlte sich goldrichtig an.
Der Körper von Jimmy Wilson war eigentlich gar nicht der Typ, den Arndt normalerweise bevorzugt hätte. Arndts große heimliche Liebe war ein gedrungener Ringkämpfer von einundsechzig Kilos in der Oberschule gewesen, der sich jeden Winter auf sechsundfünfzig Kilos herunter fastete, um den Vorteil einer niedrigeren Gewichtsklasse in Anspruch zu nehmen. Er war ein Cherokee-Halbblut, dessen straffe Muskelpakete in einem nahezu haarlosen Körper untergebracht waren. Die wenigen Muskeln, die Jimmy aufzuweisen hatte, waren der Grundausbildung zum Opfer gefallen, sein Unterkörper war von ganzen Büscheln flaumiger, zentimeterlanger Haare bedeckt, und nun ertappte sich Arndt dabei, dass er ganze Knäuel davon in die Hand nahm, um die komplexen Beckenbewegungen über ihm zu führen oder ihnen zu folgen.
Eine ganze Ewigkeit schienen sie so beschäftigt zu sein, die Münder von tief vordringenden Zungenküssen versiegelt, dann die Ohren des andern beißend wie auch den Hals, die Schultern, die Hände des Andern, was immer dem Mund in den Weg kam. Eisenhartes Zupacken wechselte sich mit unaussprechlich zartem Streicheln ab, die Hüften bewegten sich wie Synchronschwimmer durch die ebbende und steigende Flut penetrierender Leidenschaft. Wie konnte es sein, dass man gleichzeitig so sanft und wild war? Arndt hätte es nicht zu sagen vermocht.
Mit einem Stöhnen entzog sich Jimmy, und überraschte ihn dann, nicht weil er gekommen wäre – wie Arndt einen Augenblick befürchtet hatte –, sondern um mit seinem Mund hin und her, rauf und runter zu wandern, über Arndts Brust und Unterleib bis hin zu seinem Geschlecht. Mit plötzlich gezielter, geduldiger Konzentration machte er sich dort unten zu schaffen, und kehrte so die Rollenverteilung um, die Arndt für diese Nacht erwartet hatte. Nach einer unanständig langen Pause sprang er auf, ließ sich auf alle vier neben Arndt nieder, der noch immer auf dem Rücken lag.
„Jetzt bist du dran“, stieß er rau hervor, während er nach Atem rang. In der Annahme, dass die Reihe an ihn gekommen war, zu necken und zu schlecken, steckte er seinen Kopf unter Jimmys Bauch und reckte sein Gesicht nach den fraglichen Körperteilen, aber der andere packte ihn an der Schulter und rollte ihn wieder unter sich hervor. „Nein, ich will, dass du mich fickst“, sagte Jimmy mit Emphase. „Ich will, dass du mich jetzt fickst. Bitte.“
Also erhob sich Arndt auf ein Knie und nahm ihn von hinten, so wie er selbst genommen worden war und wie es Jimmy wollte, hielt einmal seinen Körper aufrecht und hielt Jimmys betörend schmale Hüften mit den Händen, und ließ sich dann wieder nach vorne auf den Rücken des Andern fallen, wobei er seine Hände und Arme umfasste, ihn von Brust bis Schoß streichelte und wieder zurück. Dann wieder packte er Jimmys Schultern unter den Achseln und stieß ihn mit der so gewonnenen Hebelkraft. Keuchen und stöhnendes Lustgekläff übertrug sich durch Jimmys Körper in Arndts Bauch und ließ ihn wissen, dass alles bestens war.
Zwei Stunden und länger ging das tolle Spiel der Freunde auf diese Art vonstatten, während sie immer wieder die Stellung wechselten, die Rollen tauschten, vom Bett auf den Boden umzogen, dann zum Fensterbrett und wieder zurück, mal standen, mal saßen, mal knieten, nebeneinander oder aufeinander lagen, die Gesichter einander zu oder voneinander abwendeten, und sich überkreuz zu absurd scheinenden akrobatischen Kunststückchen verknoteten. Die ganze Zeit aber fanden sie immer wieder zu einer Kombination tiefster Durchdringung und engstem Körperkontakt zurück, rangen miteinander auf der Suche nach den innovativsten und nervenkitzelndsten Arrangements, arbeiteten gemeinsam an einem einzigen und dynamischen, atemlosen und schweißnassen Sinn, der aus Zuneigung und gar Liebe bestand.
„Die bist so schön“, flüsterte Jimmy Wilson in einer der vielen Pausen zwischen lodernder Lust, als die Leidenschaft – poco a poco meno mosso, ma sempre intenso – nach einer langen, ruhig durchstandenen Passage innehielt und einige Augenblicke lang nur sittsam den Takt schlug. Sie lagen eine ganze Weile nebeneinander und schauten sich an, wobei Jimmy abwechselnd an Arndts Brustansatz knabberte und leckte. Mit der Hand fuhr er langsam, aber unablässig pressend die Wirbelsäule des Kameraden aus Iowa entlang, bis Arndts Gesicht sich auf den Mund des Krankenpflegers stürzte, ihn wieder auf den Rücken warf, sich auf ihn legte, ohne den Kuss zu unterbrechen, und die Lust wieder zu wüten begann: a tempo, subito.
Als dann alles vorbei war, entfuhren Jimmy nur die Worte „Oh, Mann, eh!“ Er ließ sich neben der Wand auf den Bauch fallen und versank in Schlaf, als habe man ihn anästhesiert. Einige Momente lang betrachtete Arndt ihn in benommener Zufriedenheit, dann schlurfte er ins Bad und knipste das Licht an. Sein plötzlich im Spiegel auftauchendes Abbild rief in ihm schlagartig Erinnerungen an die Kindheit wach, und zwar an die Zeit, als er Windpocken gehabt hatte: In seinem schweißverklebten Haar und über den ganzen Körper verteilt fanden sich Hunderte von kleinen Flecken in rot und braun, von Kopf bis Fuß.
Er brach in schallendes sardonisches Gelächter aus, dann stand er lange unter der Dusche, ließ heißes Wasser und kalte Seife ihr Werk tun. Ausgelaugt und erschöpft, wenn auch seltsam zufrieden und erfüllt, kehrte Arndt danach ins Zimmer zurück, deckte das unberührte Bett an der Ostwand auf, legte sich hinein und schlief ein.
Im Licht des nächsten Morgens betrachtete Arndt den schnarchenden Haufen von Laken, der Jimmy Wilson barg, und versuchte, zu seinen Sinnen zurück zu finden. Wenn überhaupt, dann durchflutete ihn das warm benebelnde Glück der vergangenen Nacht stärker noch als vorher. Er hatte nie etwas Vergleichbares empfunden, jedenfalls nicht mit einem Cheerleader-Mädchen am nächtlichen Seeufer, nicht bei akrobatischen Abenteuern auf dem Rücksitz mit der stellvertretenden Klassensprecherin des Abschlussjahrgangs, die sogar eine Auszeichnung gewonnen hatte, nicht beim Rumgefummel nach Schulschluss im leeren Haus bei jenem Schwuliboy, der in der selben Straße wohnte und hinter ihm her war, nichts dergleichen hatte ihn je dieses Ausmaß an Zufriedenheit und Wonne verspüren lassen.
Selbst der langersehnte Himmel in den Armen seines kleinen Ringers – um dessen Gunst er sich nie zu werben getraut hatte, aber dessen Andenken ihn bis heute verfolgte – kam ihm angesichts dieser ganz und gar realen Emotionen zweitrangig vor. Er hatte sich nie irgendwelchen Hoffnungen hingegeben, dass Jimmy seine Annäherungsversuche mit verliebter Hingabe erwidern würde. Er hatte Jimmy immer für absolut hetero gehalten, der im durchweg männlichen Umfeld der Army und obendrein im Ausland von nachvollziehbarer Frustration geplagt war.
Jetzt lagen die Dinge so, dass er bis über die Ohren in diesen unberechenbaren jungen Mann verliebt war, und dass seine Liebe erwidert wurde.
Jimmy erwachte mit einem unangenehm keuchenden Husten, streckte sein zerzaustes, verschlafenes Gesicht aus den Laken in die unbarmherzige Morgensonne. Als er aus dem Bett gestiegen war und er allmählich das Ausmaß der kleinen Schweinerei aus getrocknetem Blut und Unrat zu Gesicht bekam wurde, murmelte er nur, „Ach Herrje!“ und verschwand im Bad. Arndt vermied es bewusst, sich vorzustellen, zu welchen unbequemen Verrenkungen die Reinigung Jimmy zwingen musste.
Er machte sich daran, die Laken von den Betten abzuziehen, während im Nebenraum die Dusche zu hören war. Die am stärksten in Mitleidenschaft genommenen wickelte er in weniger schmutzige ein, und schließlich wand er um das ganze Bündel die so gut wie frischen Laken seines eigenen Bettes. Er kritzelte eine kurze Notiz in Deutsch – „Bitte verzeihen Sie das Malheur“ – auf ein Blatt des ausliegenden Schreibpapiers, faltete einen Zwanzig-Mark-Schein in diesen kleinen Brief und versteckte ihn unter dem geballten Knäuel der Bettwäsche auf seinem abgezogenen Bett.
Arndt und Jimmy traten in die helle Morgensonne hinaus und saßen bald unter dem Schirm eines Straßencafés, hatten Frühstück bestellt und stocherten darin herum. Jimmy war erstaunlich wortkarg und ganz klar noch verkatert, rieb sich mit den Daumen die Schläfen und hielt eine schützende Hand vor die Augen gegen das Licht, das selbst unter dem Schirm noch blendend hell war, dort wo sie hart an der Felswand unter Königsstuhl und Gaisberg saßen. Arndt ließ seinen Blick über die Felsen hinaus in den Himmel wandern, dachte zurück an letzte Nacht und die ekstatischen Beethovenklänge, die auf seinen Touren über die Hochebene durch seinen Kopf gegangen waren.
„Was, zum Teufel, hat denn dieses dämliche Grinsen zu bedeuten?“ murmelte Jimmy. Arndt schaute ihn nachsichtig an, ohne sich im Geringsten provoziert zu fühlen.
„Also, wenn du’s immer noch nicht begriffen hast, dann musst du den ganzen letzten Monat verpennt haben.“
„Ach Mist“, stöhnte Jimmy leise, „ich wollte ich wäre jetzt noch am Pennen.“
„Na, komm, du kannst dich doch sicher noch später in der Kaserne aufs Ohr legen“, war Arndts Vorschlag. „Ich muss sowieso meinen Kram zusammenpacken und zurück nach Mannheim. Ich höre jetzt schon im Wind, wie die Knackis besorgt nach mir rufen.“
„Tust du mir einen Riesengefallen, Arndt?“ sagte Jimmy sanft, nicht so kratzbürstig wie soeben noch, sondern in stillem Ernst.
„Ich würde alles für dich tun, Jimmy Wilson“, kam es wie aus der Pistole geschossen von Arndt. „Egal was.“
„Das ist genau der Punkt, der mich erschreckt“, erwiderte Jimmy. In einer perfekten Welt hätte er ein Lachen auf die Bemerkung folgen lassen, aber in der Wirklichkeit lachte er nicht. „Hör zu. Es tut mir keineswegs Leid, was letzte Nacht passiert ist. Ich bin froh, dass wir das zusammen hatten. Aber wenn wir uns das nächste Mal sehen, wäre es toll, wenn wir das einfach außen vor lassen könnten.“
Mit gut gestelltem Schneid kam augenblicklich Arndts Antwort, obwohl bereits der Schmerz in ihm zu pulsieren begann: „Kein Problem, Jimmy. Ich werde keinen Piep sagen. Jetzt lass mich nur einmal Danke sagen, bevor ich dann die Klappe halte. Ich werde das nie vergessen, und werde vor allem dich nie vergessen, mein Leben lang nicht.“
„Geht mir genauso“, gab Jimmy zu, ohne sich zu erklären. „Und auch das macht mir Angst.“
Und das war das Ende.
Arndt stieg aus der Straßenbahn wie ein Mann mit Ziel und Plan, blieb dann aber auf dem Bürgersteig vor dem Krankenhausgelände stockstill stehen, während es ihm im Bauch furchtbar kribbelte vor Aufregung, bösen Vorahnungen, chancenloser Hoffnung, Entschlossenheit und Gefühlen von Liebe, alles miteinander vermengt. Er hatte sich in der Tat fest vorgenommen, die Sache von damals nicht zur Sprache zu bringen, Jimmy nicht zu erzählen, dass er in den vergangenen acht Wochen jede Nacht wach gelegen, sich erinnert, gegrübelt und getrauert hatte, und er würde auch kein Wort sagen. Aber eines würde er mit Sicherheit tun: Er würde ihm tief in die Augen schauen und ihm sagen, dass er ihn vermisste wie sonst was, und dass er die Israelis und Araber am liebsten auf den Mond geschossen hätte, weil er ihres scheiß Krieges wegen sein Marschgepäck mit Klamotten und Atropinspritzen immer wieder hatte ein- und auspacken müssen, während er viel lieber in Heidelberg gewesen wäre und mit Jimmy Wilson Schach gespielt hätte.
Vielleicht hatten sich ja inzwischen kleine Gewissensbisse in Jimmys Kopf eingeschlichen und ihm die Augen für bestimmte Realitäten geöffnet. Das war immerhin möglich.
Mit einem komischen Gefühl in der Magengrube betrat Arndt die vertraute Kaserne, lauschte dem Echo seiner eigenen Schritte, das ihm vom anderen Ende des Flurs zugeworfen wurde. Schließlich stand er an Jimmys Tür und blickte hinein, schaute dann gleich wieder den Flur runter, um sich zu vergewissern, dass er sich im richtigen Gebäude befand. Die Sachen im Raum waren nicht die von Jimmy Wilson. Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass alles, was sich noch in dem leergeräumten Zimmer befand, Regierungseigentum war.
Wortlos schlich er sich wieder den Flur entlang und warf im Vorbeigehen den Blick in jede Tür, die offen stand. Endlich fand er jemand, den er erkannte, nämlich den Obergefreiten Partinelli, ebenfalls Krankenpfleger, der auf seinem Stockbett saß und einen Knopf an ein Hemd annähte. „Heh, Parti“, rief Arndt munter, „wie geht’s denn?“
„Ah, Sergeant Bergson“, antwortete Partinelli, nachdem er kurz von seinem Flickwerk aufgeschaut hatte. „Lange nicht gesehen. Wo haben Sie denn gesteckt?“
„Im Militärgefängnis Mannheim geschuftet, als Strafe für meine Sünden“, vertraute Arndt ihm an. „Sag mal, ich bin auf der Suche nach Jimmy Wilson, der ist ja offenbar umgezogen.“
„Oh je“, sagte Partinelli tonlos, „Sie haben es noch gar nicht mitbekommen, was?“
„Was soll ich nicht mitbekommen haben?“
„Wilson ist, mh“, der Pfleger zögerte, verschluckte sich an den eigenen Worten. Er schaute einen Moment zu Boden und dann wieder Arndt ins Gesicht, wusste nicht, was er sagen sollte und seufzte schließlich, „Sergeant, Jimmy Wilson ist tot.“
„Nein“, entfuhr es Arndt, „nein, das kann doch gar nicht sein. Wie in aller Welt ist denn das gekommen?“
„Goldener Schuss. Heroin.“
„Heroin?“ Das war doch absurd. „Also, soviel ich weiß, hat der nie etwas mit Heroin zu tun gehabt. Ein bisschen Hasch vielleicht, so wie alle, aber doch nicht Heroin?“
„Tja, das haben alle gesagt. Man vermutet, dass er das einfach mal ausprobieren wollte und gleich beim ersten Schuss hops gegangen ist, weil er keine Ahnung von der Materie hatte.“
„Aber es ist jedenfalls nicht anzunehmen“, und jetzt war Arndt derjenige, der ins Stottern kam, „er könnte das absichtlich getan haben, oder?“
„Ach was“, sagte Partinelli trocken. „Das wurde sowieso als Unfall verbucht. Hat er denn je einen Ton davon gesagt, dass er sich das Leben nehmen wollte?“
„Quatsch“, regte sich Arndt auf. „Natürlich nicht. Ach, Mensch, was für ein sinnloser Tod. Wie schade, wie jammerschade.“
„Kann man nicht anders sagen.“
„Wann ist denn das überhaupt passiert?“
„Ach Gott, das ist jetzt schon ein paar Wochen her. Ich glaube, das war in der letzten Septemberwoche.“ Er schaute an die Decke, als ob da oben die Antwort zu lesen sei oder durch den Äther schwebte. „Ja genau, Ende September, bevor der Krieg in Israel ausbrach, ganz sicher.“
Aber Arndt liefen schon die Tränen übers Gesicht. „Mensch, tut mir Leid“, murmelte er, wobei ihm die Stimme brach. „Es ist einfach so schade, so jammerschade.“
„Kann man echt nicht anders sagen“, wiederholte Partinelli. „Mich hat es auch am Anfang richtig getroffen. Der war echt ein toller Typ.“
„Ja, das war er“, stimmte Arndt zu. „Ich muss los. Mann, das ist ja fürchterlich.“
„Tut mir Leid, Sergeant.“
„Mir auch“, gab Arndt zurück, dann ging er den Flur entlang und kämpfte mit den Tränen.
Draußen schien immer noch die Sonne, es war nicht zu fassen. Er verließ das Militärgelände und lief zurück zur Karlsruher Straße wie ein Zombie. Wo wollten denn diese Massen von Deutschen alle hin in ihren kleinen Wagen? Die einen nach Süden, die anderen nach Norden, als hätten sie die Orientierung verloren. Ein riesiger Lastzug fegte an ihm vorbei mit einem muffig verpesteten Windstoß.
Irgendwie war ihm noch bewusst, dass er beim Überqueren der Straße von Westen nach Osten auf die Farben der Ampel zu achten hatte. Ein weißes Strichmännchen zeigte sich schließlich auf grünem Grund, und Arndt betrat den Zebrastreifen. Er war noch keine zwei Schritte auf dem Pflaster gegangen, als er plötzlich die Jacke auszog und zu laufen begann. Trauer und Schmerz hatten sich vom einen zum anderen Moment in weißglühenden Zorn verkehrt.
Er verfluchte alle Männer in tadellosen Anzügen, die jemals in den Hauptstädten dieser Welt gesessen hatten und ihre blöden Gesetze verfasst hatten. Zigarre im Mund, Whisky mit Soda in der einen Hand, Pillen in der anderen, und nichts als Heuchelei von Kopf bis Fuß. Männer, die andere Männer ins Gefängnis wandern ließen wegen einer Pflanze, die ganz normal in der Natur wuchs, und dumm grinsten, wenn andere mit der Nadel im Arm krepierten, weil man nie sagen konnte, wie stark die Schwarzmarktdrogen waren, die auf der Straße gehandelt wurden. Lächelten süffisant und betrachteten sich als die aufrechten Vorkämpfer eben jener Gesellschaft, die sie durch ihre Schwachsinnsverordnungen zu Grund richteten.
In grenzenloser Wut verfluchte er alle Gesetzgeber und selbstgerechten Prediger in ihren feinen, hehren Kanzeln. Während die Liebe der einen Menschen als heiliges Sakrament galt, war die Liebe der anderen kriminell, ein Gräuel, eine Schande vor dem Herrn, so wie man ihn sich vorzustellen hatte. Diese Menschen durften weder heiraten noch überhaupt ihre Gefühle für einander in der Öffentlichkeit zeigen, und ihre folglich kurzen, heimlichen Beziehungen wurden mit Nachdruck verurteilt als genetischer Defekt. Es war ganz normal, sie kollektiv von öffentlichen Plätzen fernzuhalten, sie in ihrer Verzweiflung, Einsamkeit und Scham an den Rand des Selbstmords zu treiben und darüber hinaus.
Mittlerweile rannte er in vollem Sturmschritt Richtung Norden die engen Gassen entlang zurück in die Altstadt, während ihm vor Wut die Tränen übers Gesicht strömten. Er achtete nicht auf die Seitenstraßen, die doch nur den Berg hoch führten, rannte vorbei an den Deutschen in ihrer Samstagsnachmittagsgarnitur. Als einer anhielt und ihm hinterher rief, brüllte er nur über die Schulter zurück „Halt doch die Fresse, du Arschloch!“ und legte noch einen Schritt zu.
Nach gut fünf Kilometern – nachdem er am Hauptbahnhof und im Stadtzentrum angekommen und wieder in die Rohrbacherstraße eingebogen war – hielt er an und schnäuzte sich die Stirnhöhlen frei, hustete alles aus der Lunge hoch, was raus wollte, und fühlte sich schon besser. Auch seine Jacke zog er wieder an, und auf einmal erkannte er die westliche Umfriedung des alten Bergfriedhofs genau vor sich. Von diesem Friedhof aus führten mehrere Wege zum Hochland – etwa über den Steigerweg oder den oberen Gaisbergweg –, und Arndt dachte sich, warum nicht einfach da hoch stiefeln und schauen, ob sich nicht wenigstens eine Spur von Beethoven finden ließe, und sei es nur der Trauermarsch aus der Eroica.
Er schlug einen mäßigen Schritt an, atmete tief durch und blieb von Zeit zu Zeit stehen, um Bein und Rücken durch Lockerungsübungen zu strecken. Etwa die Länge eines Fußballfeldes entfernt erhob sich vor ihm so etwas wie ein pseudogriechischer Tempel mit vier Säulen am Ende eines leicht ansteigenden schnurgeraden Weges, nämlich die Fassade eines der ältesten noch erhaltenen Krematorien Deutschlands. Als er näher kam, erblickte er die hingestreckten Frauen oder Engel, die sich auf dem friesgeschmückten Sims des Gebäudes wohlwollend in die Augen schauten.
Arndt blieb am Fuß des Krematoriums stehen und überlegte, wie es weitergehen sollte. Im südöstlichen Abschnitt gleich neben ihm lag der einzige jüdische Friedhof Heidelbergs. Er war angelegt worden, nachdem das ältere Gräberfeld Am Klingenteich gleich neben dem Fluss bereits 1876 voll belegt gewesen war. Im Zuge der vielen Schändungen und sonstigen Niederträchtigkeiten der Nazizeit hatten die Unholde nicht nur die Synagogen niedergebrannt, die Häuser und Geschäfte der Juden enteignet und die Menschen selbst in den Tod nach Gurs und Dachau geschickt, sondern sich in ihrem arischen Rassenwahn noch an den Knochen der längst verstorbenen Juden vergehen müssen.
Wie Arndt fand, hatte er sich in den zurückliegenden Stunden schon fast zu viele Gedanken über den Holocaust gemacht – und der Steigerweg lag ohnehin eher nordöstlich seines Standortes –, und so schlug er einen einladenden Weg nach Norden ein. Die einigermaßen jungen Bäume und Büsche links und rechts des Weges ließen leicht den Eindruck eines Spaziergangs im Park entstehen, solange man die Bedeutung der Grabmale und ihrer Inschriften außer acht ließ. Immer mal wieder tauchten auch aufwändige Statuen auf, nachdenkliche Schutzengel, die reglos über dem Stein lagen und sichtlich von ihren Gefühlen übermannt in die stille Gruft unter sich starrten.
Arndt hielt sich nord- und ostwärts, durchstreifte einen Irrgarten von kleinen Zwischenwegen in der Hoffnung, irgendwann auf die Fortsetzung des Steigerwegs zu stoßen, die zur Kammlage über der Stadt führte. Allmählich nahm die Steigung der nach Osten führenden Wege zu, die immergrünen Pflanzen wurden von der novemberlichen Blöße der Laubbäume abgelöst, die Grabsteine zeigten mehr und mehr Zeichen von Verwitterung und Verfärbung, bis sich kaum noch leugnen ließ, dass man es mit einem Friedhof und nicht mit einer Art Freiluft-Glyptothek zu tun hatte.
Auch dass Jimmy Wilson tot war, ließ sich nicht leugnen.
Nahe des Kamms einer Erhebung erfüllte plötzlich ein kläglich erstauntes Gequietsche die Luft vor ihm, als ein Eichhörnchen erschreckt über den Weg in einen Seitenpfad flitzte, von Zeit zu Zeit innehielt, seinen Schwanz in die Höhe streckte und dem menschlichen Eindringling missbilligende Warnrufe zuwarf. Arndt blieb kurz stehen, musste auflachen über die paranoide Sorge des kleinen Tiers und bemerkte, dass der von ihm eingeschlagene Seitenpfad anscheinend durch einen anderen Abschnitt jüngerer Steine führte. Das helle Nachmittagslicht, wie zum Leben erweckt durch Staubpartikeln, die durch die Atmosphäre wirbelten, strömte durch eine Lücke im immergrünen Bewuchs ringsum und beleuchtete eine Gruppe von Grabsteinen auf halber Höhe des Weges.
Arndt schlug diesen Pfad ein, wodurch er unfreiwillig das arme Eichhörnchen immer weiter vor sich her trieb, ihm allerdings auch mehrmals gut zuredete und ihm sagte, er hege keine bösen Absichten, sei hier nur auf der Durchreise. Auf der Lichtung angekommen blieb er stehen und besah sich das mächtigste der Male in der Sonne, eine einfache graue Steinplatte von der Form eines Sargdeckels, die im rechten Winkel zum Pfad gesetzt war, mit leicht angehobenem oberen Ende. An den Seiten und am unteren Rand der Platte standen in Luthers schmucklos kraftvollem Deutsch die Worte aus Erste Korinther 13, 13:
Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei: aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.Auf dem Kopf der Platte geschrieben stand der Name Wilhelm Furtwängler.
Arndt durchfuhr ein Stoß absoluter Fassungslosigkeit, sodass ihm die Haare zu Berge standen. Er wusste wohl, dass Robert Bunsen, der Peiniger aller Chemiestudenten, irgendwo hier auf dem Friedhof begraben lag, wusste auch, dass Friedrich Ebert, der erste, sozialdemokratische Präsident der Weimarer Republik, unter einem massiven Dolomitblock etwas weiter südlich und östlich von seinem Standort ruhte, wusste sogar, dass siebenundzwanzig von den Nazis umgebrachte Widerstandskämpfer auf dem Bergfriedhof beerdigt und geehrt worden waren. Warum war ihm nicht bekannt, dass auch Wilhelm Furtwängler hier seine letzte Ruhe gefunden hatte?
Bereits in den frühen Dreißigern hatte Furtwängler als einer der fünf größten Dirigenten seiner Zeit gegolten, und als die Nazis an die Macht kamen, war er schon auf die Fünfzig zugegangen. In seiner Funktion als Direktor der Berliner Oper, des Leipziger Gewandhauses, der Berliner Philharmoniker und des Bayreuther Festspielorchesters war er überall in der Welt – auch in Amerika – herumgekommen und hatte rauschenden Beifall geerntet. Sein hervorragender Ruf ehrte das Ansehen der deutschen Nation, und es war kein Wunder, dass Hitler und seine Spießgesellen sich gern diesen Ruf zunutze gemacht hätten.
Wilhelm Furtwängler verfolgte allerdings den Aufstieg der Nazis mit Unbehagen und widersetzte sich tatkräftig den Maßnahmen der Nazis, Juden von Positionen in der deutschen Kunstwelt auszuschließen. Als Goebbels die augenscheinlich nazikritische historische Oper Mathis der Maler von Hindemith verbot, trat Furtwängler als Direktor der Berliner Oper zurück, auch wenn er nicht so weit gehen wollte, Hindemith und Anderen ins selbstauferlegte und auch ihm nahe gelegte Exil zu folgen.
Furtwängler sah sich in erster Linie Beethoven, Bach, Brahms und der deutschen Kultur der Zukunft verpflichtet, nicht Hitler, Göring und Goebbels. Er hielt es allerdings für eine gangbare Alternative, weiter der deutschen Musik zu dienen und sie so den barbarischen Führungsansprüchen an die Kultur zu verweigern. Doch die absolute Kontrolle der Medien durch die Nazis machte jeden effektiven Widerstand so gut wie unmöglich, während der Krieg dann alles zunichte machte, nicht nur Furtwänglers Ansehen. Von da an sollte seine Person und sein Werk von der Wolke bitterer Kontroversen im Hinblick auf seine angebliche Mitarbeit im Dritten Reich überschattet sein. Man hatte seinerzeit verschiedentlich auch seinen rapiden Abstieg und relativ frühen Tod im Jahre 1954 direkt dieser fast epidemischen Empörung zugeschrieben.
Manche waren der Ansicht, in der wilden Intensität von Furtwänglers Aufnahmen zu Kriegszeiten manifestiere sich der besorgte Trotz gegenüber der Tyrannei und Gewalt der Nazis. Ungeachtet der schlechten Qualität der Aufnahmen, die Arndt kannte, musste er zugeben, dass sie von einer außerordentlichen geistigen Kraft geprägt waren. Insbesondere eine Produktion von Bruckners unvollendeter Neunten aus dem Herbst 1944 trieb den ohnehin unvermeidlichen Pathos des abschließenden Adagios an den Rand des Erträglichen.
Nach Arndts Meinung das vielleicht unheimlichste musikalischste Zeugnis aus dem Kriegszeit in Deutschland wurde allerdings gar nicht von Furtwängler dirigiert, obwohl er seinerzeit anwesend war und auf dem Podium gewesen war. Spät im dritten Aufzug der Meistersinger lacht ein Chor von Stadtmenschen einen hochstapelnden Hanswurst mit dem gebührenden Spott aus, der gerade als ein unfähiger Betrüger entlarvt wurde. Doch in einem Konzertmitschnitt einer Aufführung in Bayreuth aus dem Jahr 1943, im Verlauf derer sich die Sänger plötzlich der historischen Vorgaben der sorgfältig gesetzten Noten entbunden gefühlt haben mussten, schienen die Stimmen nur mehr in der Lage zu sein, einen erbärmlichen Abklatsch von Gelächter an diesem Punkt der Partitur zu liefern, und enthielten stattdessen einen Unterton von Entsetzen, Trauer und Grauen angesichts der Schrecken von Stalingrad, den massiven Bombenangriffen und den nicht enden wollenden Verlustmeldungen. Von der frischfröhlichen Satire Wagners oder der tröstenden Wirkung der Kunst war wenig geblieben.
In äußerster Erregung kehrte Arndt Furtwänglers Grab den Rücken zu, seine Brust von einer unstillbaren Verzweiflung erfüllt. Opfer, Täter und die entsetzten Zaungäste lagen bunt durcheinander gewürfelt rings um ihn herum, allesamt zurückgekehrt in das gleiche Schweigen der Erde, überall in der Welt. Nazis und Juden, Deutsche und Zigeuner, Arier und Slawen, Muong-Eingeborene und amerikanische Fallschirmjäger, ausgemergelte afrikanische Kinder, feiste amerikanische Geschäftsleute und fette russische Kommissare, Bauern, Ärzte, Soldaten, Politiker, Versicherungsmakler, Mörder, Pfarrer, Künstler, Ehefrauen, Musiker, Schwarze, Weiße, Rote, Gelbe, Braune, sie alle betteten sich letztlich zusammen in die gleiche kalte und gleichgültige Erde.
Als ein Soldat, der nie im Leben einen Schuss auf einen Gegner abgefeuert, eine Hütte abgefackelt oder Einheimische umgesiedelt hatte, als ein Staatsbürger, der durchgängig gegen eine rücksichtslose Regierung gestimmt und sich gegen eine unmenschliche, zum Scheitern verurteilte Politik ausgesprochen hatte, als ein Steuerzahler, der trotzdem dem Kaiser gab, was des Kaisers war: Wie viel weniger Schuld traf ihn als jene, die den Abzug gedrückt oder ihre Entscheidungen getroffen hatten? Wie viel weniger verantwortlich war er als die Stammtischredner, die über die Hippies und die Friedensbewegung herzogen, die angeblich den Truppen den Dolch in den Rücken stießen? Um wie viel geringer nahm sich die Mitschuld des Durchschnittsamerikaners aus – dessen Vorfahren einen ganzen Kontinent entvölkert und mit Sklaven von einem anderen Kontinent neu bevölkert hatten – als die des Durchschnittsdeutschen von heute?
Der Umstand, dass sich keiner von Arndts eigenen Vorfahren derartige Dinge hatten zuschulde kommen lassen, ja, mehr noch, Leben und Gesundheit aufs Spiel gesetzt hatten, um Sklaven und andere Opfer zu befreien zu helfen, war ihm geringer Trost. Die allgemeinen Ressentiments gegenüber Deutschen, Japanern, Russen, Chinesen, Nordkoreanern und Nordvietnamesen zeigten, dass die Vorstellung einer Kollektivschuld nach wie vor lebendig war. Man durfte also davon ausgehen, dass die Weltgemeinschaft die Orte My Lai und Nagasaki, oder die Verwendung von Napalm und Entlaubungsmittel nicht in guter Erinnerung behalten würde.
Als Homosexueller – oder Bisexueller oder was auch immer –, der schweigend den andauernden kulturellen Argwohn und Hass über sich ergehen ließ, um seinen Job und den Anschein von Selbstachtung nicht zu verlieren, musste er sich fragen, inwiefern er selbst sein Teil zur eigenen Unterdrückung beitrug. Gerade erst hatte er Ricky Niemeyer eigenhändig in einen Kasten gesperrt, hatte durch seine Andeutungen einem jämmerlichen alten Herrn im Bahnhof mit der Polizei gedroht. „Polizei!“ dachte er, „Was für ein Unsinn. Ich gehöre ja selbst zur Polizei!“
Er hatte dazu beigetragen, Jimmy Wilson mit seiner Zuneigung zu unüberlegten Handlungen und vielleicht sogar in den Freitod zu treiben.
Auf einem Familienurlaub an der Küste von Carolina im Alter von acht Jahren hatte ihm einst eine Welle in der Brandung den Boden unter den Füßen weggerissen, und der Sog hatte ihn vom Strand weggetragen. Die bittere Erfahrung der unerbittlichen Gewalt des Meeres und seine hilflose Panik kamen ihm jetzt wieder in den Sinn, während er sich auf der Erde vor dem Grab wiederfand. Er hatte sich vor Furtwänglers Ruhestätte auf den Boden gesetzt und sein Gesicht in den Händen vergraben. Eine Flut von Zornestränen rann seine Handgelenke entlang in die Ärmel von Jacke und Pullover bis runter zu den Ellbogen.
Was hatte er denn angestellt, was hatte er getan oder versäumt zu tun, was hatte er denn verbrochen? Was wurde denn von ihm erwartet? Er mochte sich ihrer wehren wie er wollte, die Tränen flossen, bis ihm der Schädel pochte und die Ohren gellten. Zu guter Letzt machte er sich Selbstvorwürfe, dass er sich so dem selbstbezogenen Schmerz hingab, während die Welt übervoll von echtem Elend war, und es war dieser Wermutstropfen, der das Fass ganz und gar zum Überlaufen brachte.
Wie betrunken wankte Arndt, als er dann endlich wieder auf die Beine kam, schnäuzte sich noch einmal in sein mittlerweile völlig durchnässtes Taschentuch. Ohne sich überhaupt im Klaren darüber zu sein, mit wem oder was er da zu sprechen ansetzte, richtete er seine Augen nach oben und wimmerte durch zusammengepresste Zähne. „Ich muss wissen...“ Aber was denn? Was in aller Welt musste er denn wissen? „Ich muss wissen..., was Du von mir denkst.“
Stille ringsum, und wen nahm es Wunder? Keine überirdischen Machtworte mit Donnerstimme, nicht mal ein einfacher Donnerschlag oder eine Windsbraut, der die Bäume geknickt hätte, kein Fanfarenstoß himmlischer Posaunen. Wenn überhaupt, legten sich die bisher zu spürenden Windböen, bis alles totenstill da lag und die Wipfel der Tannen ringsum regungslos verharrten. Da stand er nun, den trotzig zornigen Blick zum Himmel gerichtet, dem kristallblauen, sonnenklaren und gleichgültigen Antlitz des Universums zugewendet.
Aber dann raunte eine unglaublich stille, nüchterne, sanfte, ruhige Stimme aus der Luft genau über ihm die Worte: „Du musst zur Abwechslung mal deinen eigenen Sinnen trauen.“
Die Stimme sprach nicht in seinem Kopf, soviel war klar, denn in seinem Inneren zeterte es laut genug „Trick“, „Trugbild“, „Hör nicht hin“ und sogar „Auf die Knie, armer Irrer!“ Doch Arndt war plötzlich erstarrt und außer Atem mit jenem Staunen, auf das die Ehrfurcht folgt, und er hielt es mit der Weisheit der Indianer: Er blieb in Gegenwart des Großen Mysteriums einfach still stehen.
Er bildete sich ein, eine Spur ironischer Belustigung durch die Sphären blitzen zu sehen, als die Stimme im Himmel ihm die eigenen Worte von damals zuwarf:
„Halt doch einmal die Klappe und hör einfach zu.“
Arndt und seine inneren Monologe verstummten und gingen auf Empfang.
„Ich liebe dich“, verriet ihm die Stimme schlicht.
Arndt senkte den Blick und nahm mit einem Blick das gesamte Gräberfeld um ihn herum wahr, die Sorgfalt und liebevolle Pflege der Lebenden für die längst Verstorbenen, die überschwängliche Pracht der golden tanzenden Sonnenstrahlen, die unter den Tannen, den Buchen, den Eichen tanzten. „Danke“, murmelte er den Bäumen zu, dann sammelte er sich, wendete sein Gesicht wieder dem Himmel zu und sagte laut: „Vielen, vielen Dank.“ Tief in seinem Innern wusste er, dass es in diesem Augenblick nichts weiter zu bitten, zu beantworten oder zu erwarten gab.
In Mahlers ekstatischer Achten Symphony, die auf einer Hymne aus dem neunten Jahrhundert aufbaut, erheben sich im Veni, creator spiritus gemischte Chöre und Knabenchor über die massiven Orchesterklänge und singen:
Accende Lumen sensibus, Infunde amorem cordibus.Arndt kamen erneut die Tränen, doch diesmal waren der Trauer Dankbarkeit, Hoffnung, Vertrauen, Entschlossenheit und Liebe beigemischt.Zünd’ die Sinne mit Licht an, gieß in die Herzen Liebe.
Alles und Jedes barg einen Sinn. Das Leid von Millionen diente einem Zweck, und die Opfer all der unbelohnten und gebrochenen Seelen, selbst der Zweifel und die Trauer eines schreckhaften, undankbaren Mäusleins, wie er es war. Über die unermesslichen dunklen Äonen der Weltalter formte sich das Licht und verwandelte sich in Erleuchtung und Frieden.
Selbst wenn es sich nur um eine Stimme in seinem Schädel gehandelt hatte, oder um eine, die außerhalb oder durch den Schädel sprach, so sprach sie genau die Worte aus, derer er bedurft hatte. Zwischen Blut und Dreck geboren wohnte jedem Auge, jedem Ohr, jedem Herz ein Zauber inne: Mochte das Licht und die Poesie der Liebe ihre Triebfeder sein! Indem er Furtwänglers Grab ehrfürchtig seinen Abschied entbot, marschierte Arndt Peter Bergson wieder den Berg hinab, vorbei an Märtyrern und Monstern, normalen Sterblichen und ihren Mahnmalen, zurück zum Heidelberger Hauptbahnhof, zur Army, dem Militärgefängnis Mannheim, den Vereinigten Staaten von Amerika und der ganzen Welt.